· 

Ani Friedrich - Der Namenlose Tag

Eine junge Frau hat sich erhängt. Mord oder Selbstmord? Zwanzig Jahre nach dem tragischen Ereignis rollt der pensionierte Kommissar Jakob Franck den Fall neu auf. Seine Beweisstücke sind keine blutigen Messer und rauchende Colts, sondern Erinnerungen, die tief in die Abgründen der menschlichen Seelen gestopft worden sind. Franck versucht nicht, tote Knochen zum Reden zu bringen, sondern Menschen, die längst ihre Sprache verloren haben. Er fahndet nach verdrängten Erinnerungen. Dabei hilft ihm, dass er sich jahrelang auf Schmerz und Tod spezialisiert hat: Er war immer der Polizist, der den Angehörigen die schlimmen Nachrichten mitteilen musste.

 

Auf seiner Reise ins Innerste der befragten Menschen erweist sich der Kommissar manchmal als Polizist, als Ermittler, dann wieder als Seelsorger oder Psychologe. Franck horcht die Leute nicht nur aus, sondern will sie von der Last der Schuld und den Geistern der Erinnerung befreien. Das scheint ihm zumindest ansatzweise zu gelingen. In einer wunderschönen Szene hilft Franck einer trauernden Frau, die er zufällig in einem Restaurant trifft. Dieser Exkurs bringt die Story zwar nicht voran, macht uns Franck aber sympathisch. Allerdings verliert sich diese Geschichte im Ungewissen.

 

Auffallend ist an diesem Buch, dass der Autor nicht nur Krimiautor sein möchte, sondern Dichter. Er verwendet ungewohnte Wörter oder bastelt neue: Aushäusigkeit, Höflichkeitsvorrat, Trostvokabular, Empfindungsballast, Gedankenfühligkeit, abgefieselt, grieselig. Einige sind voll träf. Das Buch besteht – nebst der sich langsam entrollenden Handlung – aus vielen Schilderungen, Gedanken und Dialogen. Unglaublich, was sich die Leute so zusammendenken, während sie auf den Bus warten, und was es alles zu sagen gibt, bis man zum Punkt kommt. Einige der Schilderungen und Gedanken sind gut geschrieben, aber es zieht sich. Eine Umarmung walzt der Autor auf einem Dutzend Seiten aus. Ein Autor, der seine Darlings nicht killt, sondern ihnen Raum lässt. Die Handlung gerät dabei in den Hintergrund. Viele präzise Details, aber ein unscharfes Gesamtbild. Auffallend ist auch der Aufbau: Drei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück, ein paar Schritte vorwärts, ein paar zurück. Viele geschickt platzierte Wiederholungen. Wie andere leider auch scheint der Autor zu viel Zeit für den Aufbau seiner Story zu verwenden. Mir wäre trotz der schönen Formulierungen etwas mehr Krimi lieber: Besser eine gute Geschichte in gewöhnlichen Worten als eine gewöhnliche Geschichte in ungewöhnlichen Worten. Der Krimi-Dichtung-Mix ist jedoch ausgezeichnet worden und scheint zumindest bei der Jury gut angekommen zu sein.

 

Zitate:

Jedes Mal, wenn er dem Eigentümer-Ehepaar begegnete, das im Parterre und im ersten Stock wohnte, empfand er ihre Stimmen wie Laubbläser und ihre Blicke wie Unkraut.

 

Gekrümmt, mit einer schmerzvollen Bewegung, wandte er sich vom Fenster ab; die flüchtige Leichtigkeit des Nachmittags wich vollständig aus ihm; der Anblick des Zimmers bedrückte ihn; als wäre jeder mickrige Gegenstand – die beige, ewig leere Vase, die graue, durchgesessene Couch, der zerschabte, niedrige Glastisch, der dunkle Korbstuhl mit der hohen Lehne, in den er seine braune Aktentasche geworfen hatte, der Röhrenfernseher mit dem gestickten, lächerlichen Deckchen obenauf – ein Beweisstück seiner Schuld, Ausdruck seiner kaputten Existenz, die aus jeder Pore Versagen und Feigheit atmete.

 

Franck erschrak; er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal erschrocken war; er zitterte fast; ihn überfiel ein Schauder wie seit seiner Kindheit nicht mehr; sein Herz schlug über ihn hinaus; die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf wie sprechende Schneeflocken; in seinem Bauch hockte ein brennender Trommler; die Luft, die er atmete, schmeckte würziger als frisches Brot.

 

Möglicherweise, dachte Franck, gehört verbale Zurückhaltung gewöhnlich nicht zu Sandras Alltagsrepertoire.