Buch-Rezensionen A-D

Ani, Friedrich

Anton, Helga

Arendt, Hannah

Beckett, Simon

Berger, Thomas

Beutler, Kurt

Bodenheimer, Alfred

Bomann-Larsen, Tor

Bourne, Sam

Brown, Dee

Camus, Albert

Coben, Harlan

Cornwell, Patricia

Dayan, Yael

De Saint-Exupéry, Antoine

Deschner, Günther

Dornberger, Walter

Ani, Friedrich - Der namenlose Tag - Suhrkamp, 2015

 

Eine junge Frau hat sich erhängt. Mord oder Selbstmord? Zwanzig Jahre nach dem tragischen Ereignis rollt der pensionierte Kommissar Jakob Franck den Fall neu auf. Seine Beweisstücke sind keine blutigen Messer und rauchende Colts, sondern Erinnerungen, die tief in die Abgründen der menschlichen Seelen gestopft worden sind. Franck versucht nicht, tote Knochen zum Reden zu bringen, sondern Menschen, die längst ihre Sprache verloren haben. Er fahndet nach verdrängten Erinnerungen. Dabei hilft ihm, dass er sich jahrelang auf Schmerz und Tod spezialisiert hat: Er war immer der Polizist, der den Angehörigen die schlimmen Nachrichten mitteilen musste.

 

Auf seiner Reise ins Innerste der befragten Menschen erweist sich der Kommissar manchmal als Polizist, als Ermittler, dann wieder als Seelsorger oder Psychologe. Franck horcht die Leute nicht nur aus, sondern will sie von der Last der Schuld und den Geistern der Erinnerung befreien. Das scheint ihm zumindest ansatzweise zu gelingen. In einer wunderschönen Szene hilft Franck einer trauernden Frau, die er zufällig in einem Restaurant trifft. Dieser Exkurs bringt die Story zwar nicht voran, macht uns Franck aber sympathisch. Allerdings verliert sich diese Geschichte im Ungewissen.

 

Auffallend ist an diesem Buch, dass der Autor nicht nur Krimiautor sein möchte, sondern Dichter. Er verwendet ungewohnte Wörter oder bastelt neue: Aushäusigkeit, Höflichkeitsvorrat, Trostvokabular, Empfindungsballast, Gedankenfühligkeit, abgefieselt, grieselig. Einige sind voll träf. Das Buch besteht – nebst der sich langsam entrollenden Handlung – aus vielen Schilderungen, Gedanken und Dialogen. Unglaublich, was sich die Leute so zusammendenken, während sie auf den Bus warten, und was es alles zu sagen gibt, bis man zum Punkt kommt. Einige der Schilderungen und Gedanken sind gut geschrieben, aber es zieht sich. Eine Umarmung walzt der Autor auf einem Dutzend Seiten aus. Ein Autor, der seine Darlings nicht killt, sondern ihnen Raum lässt. Die Handlung gerät dabei in den Hintergrund. Viele präzise Details, aber ein unscharfes Gesamtbild. Auffallend ist auch der Aufbau: Drei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück, ein paar Schritte vorwärts, ein paar zurück. Viele geschickt platzierte Wiederholungen. Wie andere leider auch scheint der Autor zu viel Zeit für den Aufbau seiner Story zu verwenden. Mir wäre trotz der schönen Formulierungen etwas mehr Krimi lieber: Besser eine gute Geschichte in gewöhnlichen Worten als eine gewöhnliche Geschichte in ungewöhnlichen Worten. Der Krimi-Dichtung-Mix ist jedoch ausgezeichnet worden und scheint zumindest bei der Jury gut angekommen zu sein.

 

Zitate:

Jedes Mal, wenn er dem Eigentümer-Ehepaar begegnete, das im Parterre und im ersten Stock wohnte, empfand er ihre Stimmen wie Laubbläser und ihre Blicke wie Unkraut.

 

Gekrümmt, mit einer schmerzvollen Bewegung, wandte er sich vom Fenster ab; die flüchtige Leichtigkeit des Nachmittags wich vollständig aus ihm; der Anblick des Zimmers bedrückte ihn; als wäre jeder mickrige Gegenstand – die beige, ewig leere Vase, die graue, durchgesessene Couch, der zerschabte, niedrige Glastisch, der dunkle Korbstuhl mit der hohen Lehne, in den er seine braune Aktentasche geworfen hatte, der Röhrenfernseher mit dem gestickten, lächerlichen Deckchen obenauf – ein Beweisstück seiner Schuld, Ausdruck seiner kaputten Existenz, die aus jeder Pore Versagen und Feigheit atmete.

 

Franck erschrak; er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal erschrocken war; er zitterte fast; ihn überfiel ein Schauder wie seit seiner Kindheit nicht mehr; sein Herz schlug über ihn hinaus; die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf wie sprechende Schneeflocken; in seinem Bauch hockte ein brennender Trommler; die Luft, die er atmete, schmeckte würziger als frisches Brot.

 

Möglicherweise, dachte Franck, gehört verbale Zurückhaltung gewöhnlich nicht zu Sandras Alltagsrepertoire.

 

 

Ani, Friedrich - Der namenlose Tag - Suhrkamp, 2015

 

Eine junge Frau hat sich erhängt. Mord oder Selbstmord? Zwanzig Jahre nach dem tragischen Ereignis rollt der pensionierte Kommissar Jakob Franck den Fall neu auf. Seine Beweisstücke sind keine blutigen Messer und rauchende Colts, sondern Erinnerungen, die tief in die Abgründen der menschlichen Seelen gestopft worden sind. Franck versucht nicht, tote Knochen zum Reden zu bringen, sondern Menschen, die längst ihre Sprache verloren haben. Er fahndet nach verdrängten Erinnerungen. Dabei hilft ihm, dass er sich jahrelang auf Schmerz und Tod spezialisiert hat: Er war immer der Polizist, der den Angehörigen die schlimmen Nachrichten mitteilen musste.

 

Auf seiner Reise ins Innerste der befragten Menschen erweist sich der Kommissar manchmal als Polizist, als Ermittler, dann wieder als Seelsorger oder Psychologe. Franck horcht die Leute nicht nur aus, sondern will sie von der Last der Schuld und den Geistern der Erinnerung befreien. Das scheint ihm zumindest ansatzweise zu gelingen. In einer wunderschönen Szene hilft Franck einer trauernden Frau, die er zufällig in einem Restaurant trifft. Dieser Exkurs bringt die Story zwar nicht voran, macht uns Franck aber sympathisch. Allerdings verliert sich diese Geschichte im Ungewissen.

 

Auffallend ist an diesem Buch, dass der Autor nicht nur Krimiautor sein möchte, sondern Dichter. Er verwendet ungewohnte Wörter oder bastelt neue: Aushäusigkeit, Höflichkeitsvorrat, Trostvokabular, Empfindungsballast, Gedankenfühligkeit, abgefieselt, grieselig. Einige sind voll träf. Das Buch besteht – nebst der sich langsam entrollenden Handlung – aus vielen Schilderungen, Gedanken und Dialogen. Unglaublich, was sich die Leute so zusammendenken, während sie auf den Bus warten, und was es alles zu sagen gibt, bis man zum Punkt kommt. Einige der Schilderungen und Gedanken sind gut geschrieben, aber es zieht sich. Eine Umarmung walzt der Autor auf einem Dutzend Seiten aus. Ein Autor, der seine Darlings nicht killt, sondern ihnen Raum lässt. Die Handlung gerät dabei in den Hintergrund. Viele präzise Details, aber ein unscharfes Gesamtbild. Auffallend ist auch der Aufbau: Drei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück, ein paar Schritte vorwärts, ein paar zurück. Viele geschickt platzierte Wiederholungen. Wie andere leider auch scheint der Autor zu viel Zeit für den Aufbau seiner Story zu verwenden. Mir wäre trotz der schönen Formulierungen etwas mehr Krimi lieber: Besser eine gute Geschichte in gewöhnlichen Worten als eine gewöhnliche Geschichte in ungewöhnlichen Worten. Der Krimi-Dichtung-Mix ist jedoch ausgezeichnet worden und scheint zumindest bei der Jury gut angekommen zu sein.

 

Zitate:

Jedes Mal, wenn er dem Eigentümer-Ehepaar begegnete, das im Parterre und im ersten Stock wohnte, empfand er ihre Stimmen wie Laubbläser und ihre Blicke wie Unkraut.

 

Gekrümmt, mit einer schmerzvollen Bewegung, wandte er sich vom Fenster ab; die flüchtige Leichtigkeit des Nachmittags wich vollständig aus ihm; der Anblick des Zimmers bedrückte ihn; als wäre jeder mickrige Gegenstand – die beige, ewig leere Vase, die graue, durchgesessene Couch, der zerschabte, niedrige Glastisch, der dunkle Korbstuhl mit der hohen Lehne, in den er seine braune Aktentasche geworfen hatte, der Röhrenfernseher mit dem gestickten, lächerlichen Deckchen obenauf – ein Beweisstück seiner Schuld, Ausdruck seiner kaputten Existenz, die aus jeder Pore Versagen und Feigheit atmete.

 

Franck erschrak; er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal erschrocken war; er zitterte fast; ihn überfiel ein Schauder wie seit seiner Kindheit nicht mehr; sein Herz schlug über ihn hinaus; die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf wie sprechende Schneeflocken; in seinem Bauch hockte ein brennender Trommler; die Luft, die er atmete, schmeckte würziger als frisches Brot.

 

Möglicherweise, dachte Franck, gehört verbale Zurückhaltung gewöhnlich nicht zu Sandras Alltagsrepertoire.

 

 

 

Anton, Helga - Eine Geigerin wird zur Beterin, eine biografische Erzählung. - Lothar von Seltmann, 2012

 

Das Buch ist schrecklich geschrieben. Trotzdem lohnt sich die Lektüre des spannenden Schicksals von Helga Anton. Die Frau war eine erfolgreiche Geigerin und heiratete während des Krieges einen Geiger. Sie wurde schwanger. Ihr Mann zog in den Krieg und ward nie mehr gesehen. Das waren schwere Zeiten. Zudem war Helga Anton oft kränklich, zuweilen auch schwer krank. Ihr Kind musste ohne Vater aufwachsen, was ihm offenbar nicht gut bekommen ist.

 

Als Erwachsene kam Helga Anton zum Glauben an Jesus Christus. Sie studierte die Bibel mit gleicher Disziplin, wie sie Notenblätter studierte. Vieles lernte sie auswendig, was mit zunehmender Erblindung ein grosser Vorteil war. Sie lebte ihren Glauben so konsequent wie möglich. Ungewöhnlich ist, dass sie vom Pfarrer als Beterin angestellt und auch bezahlt wurde. In den Esoterik-Inseraten der Zeitung wurden die Gebetszeiten öffentlich bekannt gemacht wie eine Sprechstunde.

 

Helga Anton leistete Seelsorgearbeit in den Gesprächen vor und nach dem Gebet. Viele Heilungen geschahen, viele Menschen kamen zum Glauben, vielen wurde geholfen. Für jede klare Gebetserhörung wurde der Perlenkette beim Altar in der Kirche eine neue Perle zugefügt. Im hohen Alter, als Helga Anton bereits blind war, schrieb sie eine Serie von Büchern, die sie jeweils auf Kassetten aufgenommen hatte, und die gut gelesen wurden.

 

Als Helga Anton ihren Gebetsdienst begann, notierte sie zehn Gebote für den Dienst des Gebets (gekürzt):

1.                  Von Jesus lernen, ER muss es machen.

2.                  Im Namen Jesu und unter der Deckung seines Blutes beten. Von vornherein den Dank einplanen.

3.                  Das Heil geht immer vor das Wohl.

4.                  Nie an der Wirkung des Gebets zweifeln, aber wissen, dass Gott dazu seine eigenen Gedanken hat.

5.                  Auf Verheissungen bauen und daran festhalten.

6.                  Immer ein Ohr bei Gott und ein Ohr bei den Menschen haben.

7.                  Nach dem Glauben fragen. Allenfalls das Evangelium verkünden.

8.                  Immer direkt beten, nicht allgemein formulieren. Dem Gebetsanliegen auf den Grund gehen, Hintergründe erkunden,

                     Ursachen erforschen.

9.                  Immer konkret beten, die Sache beim Namen nennen.

10.                Mächten der Finsternis gebieten nach Jesu Vorbild.

 

 

 

Arendt, Hannah - Eichmann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 1963

 

Hanna Arendt (1906-1975) verwertet eine Unmenge von Akten für dieses Buch, das den Prozess gegen den Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann beschreibt. Die Israelis hatten vermutlich von einem deutschen Staatsanwalt erfahren, dass sich Eichmann in Argentinien versteckt hielt. Er wurde entführt und in Jerusalem vor Gericht gestellt. Der Staat Israel wollte das Monster zur Strecke bringen.

 

Der Prozess wird nur relativ kurz beschrieben. Arendt stützt sich auf Aktenberge und schildert ausführlich die Fakten über die Vernichtungsstrategie der Nazis und die juristischen Probleme des Falles; zum Beispiel, dass Eichmann seine Taten nicht in Israel begangen hatte und nun in Jerusalem vor Gericht stand.

 

Dabei wird deutlich: Die Deutschen hatten Hitlers Willen zum Gesetz erhoben und ein System geschaffen, in welchem Hitlers Absichten radikal umgesetzt wurden. Man machte sich keine Gedanken über die Moral oder das Leid, das man anderen Menschen zufügte. Eichmann war in diesem System ein Mitarbeitender, der sich alle Mühe gab, möglichst viele Menschen nach Auschwitz zu transportieren. Auch unter schweren Bedingungen organisierte er Züge, um Menschen in den Tod befördern zu können. Dabei arbeitete er mit den Juden zusammen, die ihre Deportation selber organisieren und bezahlen mussten. Das ist im Detail spannend zu lesen, aber auch erschreckend nüchtern. Wie hoffnungsvolle Inseln sind in diesem Text die Schilderungen aus Ländern, die sich den Nazis widersetzt haben, allen voran Dänemark. Das tut gut!

 

Zwei Aussagen von Hannah Arendt haben heftigen Widerspruch hervorgerufen und sind bis heute umstritten. Erstens spricht sie von der Banalität des Bösen. Das heisst: Eichmann ist eben nicht ein Monster, kein blutrünstiger Mörder, kein hasserfüllter Antisemit, sondern ein gewöhnlicher, eher langweiliger und dummer Beamter, der die Vernichtungsmaschine der Deutschen schmierte und ölte, ohne sich deswegen je ein Gewissen zu machen. Er war ein pingeliger Beamter, der die Transportprobleme der Deutschen lösten. Dass er damit Millionen Menschen in den Tod karren liess, war nicht seine Sache. Er war ein gewöhnlicher Beamter, und das Gericht hätte sich überlegen müssen, wie man einen Mann verurteilen kann, der nie etwas Böses getan hat, sondern das Böse nur indirekt mit akribischem Fleiss unterstützt hatte. Dass Arendt damit das Böse schönredet, ist ein Missverständnis. Sie hätte Eichmann auch verurteilt, aber nicht aufgrund von moralischen Voraussetzungen, die einfach nicht griffen.

 

Zweitens greift Hannah Arendt die jüdischen Führungspersonen an, die mit den Nazis zusammengearbeitet hatte. Die Juden mussten sich organisieren, Volkszählungen durchführen, die jüdischen Vermögen erfassen und schliesslich die Menschen bereitstellen, die in die Gaskammern gebracht wurden. Arendt suggeriert, dass die Juden die Vernichtungsmaschine hätten bremsen können, wenn sie die Zusammenarbeit mit den Nazis verweigert oder wenigstens verlangsamt hätten. Von jüdischer Seite wird das weitgehend als Beleidigung empfunden, denn die Nazis hätten den Juden keine Wahl gelassen; es habe keinen Spielraum gegeben für aktiven oder passiven Widerstand.

 

Die über 420 Seiten des Buches sind schwere Kost. Dass jedoch die Themen und Thesen des Buches noch heute diskutiert werden, spricht für die Qualität dieser Arbeit.

 

 

 

Beckett, Simon - Verwesung. Thriller. Rowohlt, 2011

 

Simon Beckett schrieb eine ganze Serie von Krimis mit David Hunter als Held. Der forensische Anthropologe löst die Fälle, indem er sehr genau beobachtet und scharf kombiniert. In diesem Roman schreckt er auch vor Abenteuern nicht zurück, die in jeden Actionfilm passen würden.

 

Es geht um die Suche nach den Gräbern von Mädchen, die von Jerome Monk ermordet worden sind. Man geht davon aus, dass die Leichen irgendwo im Moor liegen. Monk ist im Gefängnis, weil er die Morde gestanden hat. Nun darf er im Moor bei der Suche nach den Leichen helfen, doch er hilft nichts, sondern unternimmt einen Fluchtversuch. Mit seinen gewaltigen Kräften wäre ihm das fast gelungen. Hunter und sein Team finden tatsächlich ein Grab, doch da liegt nur ein toter Dachs. Hervorragend schildert Beckett die Spannungen im Team. Die Stimmung ist so schlecht, dass eigentlich gar keine ernsthafte Suche stattfindet. Alles ist eine Riesenschlappe für alle Beteiligten, die man möglichst vergessen will.

 

Ein paar Schicksalsschläge und acht Jahre später flieht Jerome Monk aus dem Gefängnis und verschwindet spurlos. Panik bei der Polizei. Es sieht so aus, als würde Monk die Mitglieder des damaligen Suchteams aufsuchen und abmurksen. Eine ehemalige Kollegin bittet Hunter um Hilfe. Die hat sie auch nötig, denn sie ist überfallen und zusammengeschlagen worden. Hunter und die Frau helfen sich gegenseitig, eine zarte Liebesgeschichte wird angedeutet. Monk ruft die Frau mehrmals an, doch er kommt nicht zu ihr durch. Hier verrät der Autor indirekt, wie es weitergeht: Monk bedroht die Frau gar nicht, sondern will mit ihr Kontakt aufnehmen. Mit einem brutalen Überfall erzwingt Monk das Treffen mit Hunter und der Frau. Er verschleppt beide in Höhlen, die sich unter dem Moor befinden. Offensichtlich hat er sich hier jeweils vor der Polizei versteckt. Bald zeigt sich, dass er herausfinden will, ob er die Morde tatsächlich begangen hat. Er hofft auf Hilfe. Wegen einer Hirnverletzung hat er Tobsuchtsanfälle, an die er sich nachher nicht erinnern kann. Er erzählt die Geschichte aus seiner Sicht. Schliesslich lässt er Hunter und die Frau wieder gehen. Der Weg aus der Höhle ist schwierig. Monk hilft der Frau durch eine enge Stelle, kommt dabei aber selber ums Leben.

 

Die Begegnung mit Monk macht Hunter klar, dass er wahrscheinlich gar nicht der Mädchenmörder war. Hunter forscht weiter und kann den Fall unter Lebensgefahr lösen. Der wahre Täter stammt aus seiner engsten Umgebung. Und als das Team das Dachs-Skelett nochmals genauer anschaut, werden darunter die Mädchenleichen gefunden. Der Dachs war lediglich ein Ablenkungsmanöver. Am Ende des Romans drückt Beckett die Reset-Taste: Der Held lebt wieder allein, der Fall ist gelöst, die aufkeimende Liebschaft beendet und ein neues Abenteuer kann beginnen.

 

Der Krimi ist angenehm zu lesen, nur würde man sich wünschen, dass Hunter etwas häufiger als forensischer Anthropologe arbeiten würde. Gerne würde man ihm öfter bei der Arbeit über die Schultern schauen. Stattdessen  müssen wir zusehen, wie er mit privaten und persönlichen Problemen kämpft. Weiter würde man sich wünschen, dass Beckett die Story nicht zu früh verraten würde. Aufmerksame Leser sind wohl von keiner der überraschenden Wendungen wirklich überrascht.

 

 

 

Berger, Thomas - Der letzte Held (Little Big Man), NSB, 1964

 

Die fantastische Geschichte von Jack Crabb, den keiner kennt, der aber im alten Westen bei vielen weltbekannten Ereignissen dabei war. Er kannte Wild Bill Hickok, Wyatt Earp und George Armstrong Custer persönlich, erlebte den Aufbau des Wilden Westens, den Goldrausch und zuletzt die Schlacht am Little Bighorn, die mit dem einzigen und letzten grossen Sieg der Indianer endete. Crabb wuchs bei Weissen und bei Indianern auf, er kennt beide Kulturen und bleibt in beiden sowohl heimisch als auch fremd. So lebt er mal da, mal dort, mal verheiratet und mit Kind, dann wieder allein oder mit einer anderen Frau und so weiter. Im Laufe seines Lebens trifft er immer wieder auf die gleichen Leute und verfolgt mit, wie sie sich nach oben arbeiten oder in ihr Verderben rennen. Crabb verhilft einer Prostituierten zu einem guten Leben, wird Pokerspieler, Büffeljäger, Säufer, Revolverheld, Fährtenleser und vieles mehr. Fast atemlos hetzt er durch sein Leben.

 

Der Roman ist kurzweilig, traurig und witzig zugleich. Die die Indianer werden durchweg als menschliche Wesen gezeigt mit einer komplexen Kultur. Berger entlarvt die Indianerkriege als Gemetzel; zeigt uns die Menschen mit all ihren Schwächen und Stärken und kritisiert die amerikanische Eroberungstaktik und indirekt den Vietnamkrieg. Die Verfilmung mit Dustin Hoffman war ein grosser Erfolg. 36 Jahre nach dem Erfolg des Romans schrieb Berger »The Return of Little Big Man», das meines Wissens nicht auf Deutsch erschienen ist. Die Fortsetzung ist unlogisch, da Jack Crabb im ersten Buch stirbt, nachdem er sein Leben bis zur Schlacht am Little Bighorn erzählt hat.

 

Zitat

Jack Crabb wundert sich, dass ihn von der Armee niemand ausfragt über seine Erfahrungen bei den Indianern: »Es dauerte nicht lange, bis ich herausfand, dass es in der weissen Welt höchst selten jemanden gibt, der hören möchte, was ein anderer sagt, um so mehr, wenn der andere weiss, wovon er spricht.«

 

 

 

Beutler, Kurt - Die Schweiz und ihr Geheimnis. Warum dieses Land anders ist.

 

Der Autor arbeitete im von Heinz Strupler gegründeten Newlife und in der Heilsarmee. Heute ist er bei Meos in Zürich tätig, einem Missionswerk, das sich auf Fremdsprachige in der Schweiz spezialisiert hat. Er war mehrmals im Ausland im Einsatz und kann unter anderem Arabisch. Jetzt hat er ein Buch geschrieben, das sich anfühlt wie ein Staatskundebuch, das geschrieben wurde, um Asylbewerber zu informieren und gleich noch ein wenig zu missionieren.

 

Die Schweiz ist anders, weil sie ein Bund ist, den die Gründer miteinander und mit Gott geschlossen haben. Kein Nationalstaat. Sie kann mit Israel verglichen werden, das ebenfalls auf einem Bund mit Gott beruht und ein Verteidigungsbündnis ist. Die Schweiz ist auch anders, weil sie immer wieder von Christen geprägt worden ist. Im Schnellgang erzählt Kurt Beutler die Biografien von Männern und Frauen, die sich von der biblischen Botschaft prägen liessen, gegen den Strom schwammen und zum Teil gegen grossen Widerstand grosse Taten vollbracht haben, oft mit weltweiter Bedeutung: Henri Dunant gründete das Rote Kreuz. Heinrich Pestalozzi prägte Europas Pädagogik. Leonhard Euler war ein Jahrhundert-Genie. Johanna Spyri schrieb mit «Heidi» ein Buch, das weltweit bekannt ist und zeigt, wie hilfreich der Glaube an Gott ist – was in etlichen Heidi-Ausgaben gekürzt oder gestrichen worden sei, schreibt Beutler. Er erzählt weiter von Schweizerinnen und Schweizern, die aufgrund ihres christlichen Glaubens verfolgte Menschen retteten, Hilfswerke aufbauten, Generationen von Seelsorgern prägten, Sklaven befreiten, die Bruderschaft von Taizé gründeten.

 

Auf einem zügigen Gang durch die Geschichte untermauert Beutler seine These, dass die Schweiz von der Bibel geprägt. So starb Winkelried in der Schlacht bei Sempach den Opfertod, ähnlich wie einst Jesus. Und in der Reformation wurde die neutestamentliche Botschaft neu entdeckt, und von der Schweiz aus wurde die Kirche in vielen Ländern reformiert. Leider, schreibt Beutler, hat die Schweiz den Bund mit Gott gebrochen. Man strebt nach Macht statt nach Nachfolge, baut ein irdisches Reich statt das Reich Gottes, belächelt oder verfolgt überzeugte Christen, anstatt ihnen zu danken.

 

Den Schluss des Buches bildet eine Tirade gegen den Humanismus. Die Kirche ist dem Humanismus auf den Leim gekrochen und kraftlos geworden. Der Humanismus stellt sich als menschenfreundlich dar, was er grundsätzlich nicht ist, und schiebt seit Jahrhunderten alle Fehlentwicklung der Religion in die Schuhe. Diese Propagandalüge ist solide aufgebaut und wird kaum noch durchschaut.

 

Und meine Meinung dazu? Für eine Staatskunde fehlt die Aktualität zu sehr. Die Biografien sind kurz, aber super. Von einigen dieser Helden hatte ich noch nie etwas gehört. Allerdings stört mich, dass die ganze Argumentation eine Art Verteidigungsrede ist. Die Welt wird das Evangelium aber nicht an unserer Rechthaberei erkennen, sondern an unserer Liebe, sagt Jesus.

 

Und: Einen lange aufgebauten Begriff wie «Humanismus» kann man nicht mit einem Pamphlet umdeuten. Das braucht ein Konzept und viel Energie und Durchhaltevermögen. Lohnt sich da der Aufwand?

 

 

 

Bodenheimer, Alfred - Das Ende vom Lied. Ein Fall für Rabbi Klein. - Nagel & Kimche, 2015

 

Ein herrlich unaufgeregter Krimi über einen Rabbi in Zürich. Er kümmert sich nicht nur um seine Schäfchen, sondern auch um eine Mordermittlung, die ihn nichts angeht. Findet die Zürcher Polizei. Schritt für Schritt führt der Krimi ein ins Beziehungsgeflecht der Frauen, die als Täterin in Frage kommen. Mit Hilfe seines leicht behinderten aber blitzgescheiten Praktikanten kann Rabbi Klein das Netz um die mögliche Täterin immer enger ziehen, bis der Fall direkt vor seiner Nase gelöst wird.

 

Zwischendurch liest Rabbi Klein einen Stapel von Briefen durch, die ein Überlebender des KZ Theresienstadt an seine verstorbene Frau geschrieben hat. So flicht der Autor das zweitgrösste Drama der jüdischen Geschichte in seinen Roman ein. Böse Zungen könnten sagen, er profitiert von der Verfolgung der Juden. (Das grösste Drama ist, dass die Juden ihren Messias Jesus Christus verworfen haben). Nebenbei erfahren wir einiges Interessantes über die Befindlichkeit der Juden in Zürich und ihre Sitten und Gebräuche. Am Ende des Buches erklärt ein kleines Glossar die sparsam gesetzten hebräischen Wörter. Mit dem Ende vom Lied ist nicht nur die Auflösung des Falles gemeint, sondern auch der letzte Vers des Hoheliedes in der Bibel, auf das der Rabbi mehrmals zurückkommt. Der letzte Vers wird ganz unterschiedlich übersetzt und lautet gemäss Elberfelder Bibel: «Enteile, mein Geliebter, und sei gleich einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche auf den duftenden Bergen!»

 

Schade, dass auch dieser Autor das heutige Judentum auf ein paar komische Kleidungsstücke und einige seltsame Lebensregeln und Gebräuche reduziert. Es ist immer das gleiche Lied: Berichte über Juden, über die Amischen, über konservative Christen oder katholische Ordensbrüder legen den Fokus fast immer auf ein paar Kleidervorschriften und einige ungewohnte Lebens- und Alltagsregeln. Auf den Kern des Judentums oder des christlichen Glaubens, auf die Motivation, gehen die Medien dabei in der Regel nicht ein. Und dieser Kern lautet: Liebe Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst. Doch davon liest man kaum ein Wort.

 

 

 

Bomann-Larsen, Tor - Amundsen. Bezwinger beider Pole. - Übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig - mareBuchverlag, 1995

 

Die grosse Biografie über Roald Amundsen (1872-1928), den Norweger, der es als erster Mensch zum Südpol schaffte und später mit einem Luftschiff den Nordpol erreichte. Er gehört mit Fridtjof Nansen (1861-1930) und anderen zu den grossen Norwegern, die das Selbstbewusstsein des Landes gewaltig angehoben haben, was bis heute nachwirken dürfte.

 

Bomann-Larsen erweist sich als detailverliebter Rechercheur, der aus unzähligen Büchern, Briefen, Notizen, Tagebüchern, Zeitungsberichten und so weiter eine ausufernde Biografie über Roald Amundsen schreibt. Das bemerkenswert, weil Amundsen ein Geheimniskrämer war. Manche Episoden kann der Autor nur aufgrund kryptischer Notizen (zum Beispiel B. 28/3) nachvollziehen. Dabei geht es ihm weniger um die Abenteuer, die Amundsen erlebt hat, sondern mehr um die Person Amundsen. Wir finden keine spannenden Schilderungen von Amundsens Expeditionen, sondern detailreiche Schilderungen seines Lebens. Sein Verliebtsein in Frauen, die er nicht haben kann. Seine enge Zusammenarbeit mit seinen Brüdern. Die unendlichen Kämpfe und Vorbereitungen, bis eine Expedition loszieht.

 

Dann lesen wir, wie er als erster die Nordwestpassage durchfuhr, die 400 Jahre lang gesucht worden war. 1911 erreichte er als erster Mensch den Südpol, noch vor seinem Rivalen Scott, der auf der Rückreise umkam. Auch den Nordpol hat er vermutlich als erster Mensch erreicht, und zwar mit dem Luftschiff «Norge». Es war eine italienisch-norwegische Expedition, die von Mussolini gutgeheissen worden war. Einige Leute sind ihm zwar zuvorgekommen, konnten jedoch nie endgültig beweisen, dass sie es geschafft hatten.

 

Der grösste Teil des Buches schildert den Niedergang der Persönlichkeit von Roald Amundsen. Konnte er zu Beginn noch eine Schiffsmannschaft begeistern, zeigte er sich zunehmend starrköpfig, egoistisch, eigenbrötlerisch. Er lebte in einer Traumwelt seiner Liebschaften und lebte innerlich extrem zurückgezogen. Von einer Expedition hat er zwei Eskimomädchen mitgebracht, die er geliebt zu haben scheint. Er brachte sie nach Norwegen und schaute zu, wie sich die Mädchen integrierten und schulisch gut zurecht kamen. Daraufhin meinte er, sein Experiment sei erfolgreich abgeschlossen, und verbannte die Mädchen aus seinem Leben. Seinen Bruder Leon, der das organisatorische Rückgrat all seiner Unternehmen war, hat er ohne Wimperzucken verstossen.

 

Der innerlich einsame Eigenbrötler Amundsen lebte gemieden und zurückgezogen. Dazu träumte er von Heiratsplänen. Dann bot ihm das Schicksal eine Gelegenheit zu einem grossen Auftritt, der er nicht widerstehen konnte. Mit Umberto Nobile und dem Luftschiff «Norge» hatte er 1926 den Nordpol erreicht. Und jetzt, 1928, war Nobile mit dem Luftschiff «Italia» und der ganzen Mannschaft verschollen. Die Welt fieberte mit und eine Reihe von Such-Expeditionen wurden gestartet. Amundsen konnte sich ein Wasserflugzeug beschaffen und startete überstürzt eine eigene Suchaktion, obwohl er Nobile hasste. Denn hier konnte er nicht verlieren. Konnte er Nobile retten, war er ein Held. Starb er bei der Aktion, wurde er ein unsterblicher Märtyrer. Letzteres geschah, denn Amundsen wurde nach dem Start nie mehr gesehen.

 

Der Autor hält sich leider für einen Dichter, anstatt dass er die Fakten darlegen würde. Man muss oft 20 oder mehr Seiten zurückblättern, um zu erfahren, von welchem Jahr die Rede ist. Und wenn man Geburts- und Todestag von Amundsen oder andere Jahreszahlen wissen möchte, ist man auf Google schneller informiert als in diesem Buch. Blumige Bilder sind dem Autor wichtiger als Informationen. Ein Foto zeigt zum Beispiel das Wasserflugzeug Latham 47, mit dem Roald Amundsen 1928 in den Tod geflogen ist. Die Bildunterschrift lautet: «Der Schwan des Südens im hohen Norden... Links unternimmt Leif Dietrichson (mit Schirmmütze) gerade den entscheidenden Schritt...» Solche rätselhaften, nichtssagenden Bildlegenden sind Bullshit, und davon wimmelt es in diesem Buch. Die Blumigkeit geht so weit, dass viele Passagen nicht wirklich verständlich sind. Klare Informationen wären da willkommen gewesen.

 

Es ist unglaublich, wie ein so grosses Drama so langweilig beschrieben werden kann. Das ist auch eine Anfrage an den Übersetzer, der so berühmt ist, dass sein Name auf der Titelseite des Buches steht: Warum hat er diese Blumigkeit und Unschärfe übernommen? Er hätte doch sagen müssen: Das mag schönes Norwegisch sein, aber auf Deutsch ist das Lächerlich!

 

 

 

Bourne, Sam - Der Präsident. Kann ihn jemand stoppen, bevor er den 3. Weltkrieg auslöst?

 

Sam Bourne (in Wirklichkeit der Journalist Jonathan Freedland) schildert hier einen amerikanischen Präsidenten, der vollkommen übergeschnappt ist. In unzähligen Zitaten und Anspielungen ist klar, dass dieser Präsident Donald Trump nachempfunden ist. Sein Vorgänger ist Barack Obama nachempfunden, eine gescheiterte Präsidentschaftskandidatin ist unschwer als Hillary Clinton zu erkennen, auch wenn keiner dieser Namen je genannt wird. Wäre dieses Buch ein Film, würde der Präsident in keiner einzigen Szene zu sehen sein. Die handelnden Personen des Romans stammen fast ausschliesslich aus dem engsten Umfeld des Präsidenten. Und dieser Präsident ist ein ekel. Er macht rassistische Sprüche und ist Frauen gegenüber übergriffig. Sein einziger Fokus ist er selber, sein einziges Ziel die Befriedigung seiner Wünsche. Gleich zu Beginn des Romans gibt er im Jähzorn den Befehl, Nordkorea und China mit Atomwaffen anzugreifen. Hunderte Millionen Menschen würden sterben, weite Teile des Planeten verwüstet. Nur der Geistesgegenwart seiner Untergebenen ist es zu verdanken, dass der Atomschlag nicht stattfindet. Klar, ein solcher Präsident ist gefährlich und muss weg.

 

Der Verteidigungsminister und der Staatschef wollen den Leibarzt des Präsidenten dazu bringen, ihn für unfähig zu erklären. Das scheitert, weil der Leibarzt sich eine Kugel in den Kopf jagt. Nun planen die beiden Männer den Tyrannenmord: Ein Scharfschütze bereitet einen Anschlag vor, und zwar so, dass den Ermittlern ein toter Einzeltäter geliefert wird. Präsident tot, Fall gelöst.

 

Doch da kommt unsere Heldin Maggie Costello ins Spiel. Sie arbeitet im Weissen Haus und hat das Ziel, die Werte der Vorgänger-Administration in die neue Administration hinüberzuretten. Sie dient dem neuen Präsidenten, will aber dessen Untaten abmildern. Sie erhält den Auftrag, den Tod des Leibarztes zu untersuchen. Rasch wird klar: Es war Mord, kein Selbstmord. Bei den weiteren Untersuchungen schlussfolgert sie, dass ein Attentat auf den Präsidenten erfolgen wird. Maggie gerät zwischen die Fronten. Sie hasst zwar den Präsidenten, muss aber als loyale Mitarbeiterin das Attentat verhindern. Sie will Alarm schlagen, kommt damit aber nicht weit, denn ihr Zugang zum Weissen Haus und fast alle ihre Kontaktmöglichkeiten sind gesperrt. Zudem wird sie mehrmals bedroht. Sie ist mit ihren Nachforschungen jemandem zu nahe gekommen, der nicht enttarnt werden will. Und Maggie stellt fest, dass ihre Gegner über alle ihre Schritte informiert sind. Indirekt gelingt es ihr, das Attentat zu verhindern. Der Präsident wird verletzt, aber eine Panzerweste rettet ihm das Leben.

 

Die neue Administration will das Attentat nutzen, um Notrecht auszurufen und die Macht des Präsidenten auszuweiten. Nach Belieben sollen nun Ausländer und Amerikaner ausgewiesen werden können. Der Präsident soll diktatorische Macht erhalten und seine Amtszeit beliebig verlängern können. Maggie lässt sich aber nicht unterkriegen und forscht weiter. Dabei kann sie der neuen Administration so schwere Verbrechen nachweisen, dass ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet wird. Der Präsident und seine Getreuen sind Geschichte.

 

Maggie ist zwar sympathisch, aber irgendwie gespalten. Einerseits ist sie naiv und spielt ihren Gegnern ständig Informationen zu. Anderseits ist sie so clever, dass sie einen weit überlegenen Gegner bodigen kann, sogar zwei durchtrainierte Schlägertypen. Das geht nicht auf. Der Roman ist an vielen Stellen gestreckt mit endlosen Gedankengängen der Heldin und mit endlosen Reden ihrer Gegner. Der Autor hat sich gründlich ins Weisse Haus eingearbeitet und schildert die Orte und Abläufe detailliert und anschaulich. Die Story ist spannend erzählt und lebt von den unzähligen Anspielungen auf wirkliche Ereignisse. Trump war schlimm, aber Gott sei Dank nicht ganz so schlimm wie der Präsident in diesem Roman. Am Ende des Romans drückt auch dieser Autor die Reset-Taste: Maggie ist den Job und den Geliebten los und bereit für eine neue Story.

 

Die Maggie-Costello-Romane, Stand 2020: Das letzte Testament, Der Gewählte, Der Präsident, Die Wahrheit, Die Kampagne.

 

 

 

Brown, Dee - Pulverdampf war ihr Parfum. Die sanften Helden des Wilden Westens. - Hoffmann und Campe, 1974

 

Der grosse Kenner des Wilden Westens und der Indianer, Dee Brown, legt hier die Geschichte der Frauen vor, die den Westen erobert und gezähmt haben. Im Schatten der berühmten Revolverhelden haben die Frauen den Westen mitgeprägt. Sie durchquerten als Pionierinnen die grossen Ebenen, überstanden ohne fremde Hilfe beinharte Winter, arbeiteten als Lehrerinnen im Indianerterritorium, begleiteten als Soldatenfrauen ihre kämpfenden Männer, haben mit harter Arbeit aus nichts ein Essen herbeigeschafft.

 

Auf dem Weg nach Westen merkten die Frauen bald, dass alle gesellschaftlichen Konventionen und Regeln für sie nicht mehr bindend waren. Sie spürten eine Freiheit, die es für sie noch nie gegeben hatte. Und so kämpften sie für das Frauenstimmrecht, das aktive und passive Wahlrecht, und betätigten sich zunehmend als Unternehmerinnen, die nicht mehr von Männern abhängig waren. Eine resolute Frau wie Carry Nation bekämpfte den Alkoholismus mit Beil und Steinen, indem sie zahllose Bars verwüstete – zu anderen Zeiten wäre sie nach kurzer Zeit im Gefängnis und hoch verschuldet gewesen.

 

Dee Brown schildert den enormen Frauenmangel im Westen und welche Anstrengungen es kostete, die Nachfrage zu befriedigen. Man bot den Frauen im Osten gut bezahlte Arbeit und sicheren Transport an, um sie in den Westen zu locken; man verdingte sie als Hausmädchen, als Lehrerinnen oder Krankenschwestern, importierte sie als Animierdamen und versprach ihnen das Blaue vom Himmel. Entsprechend selbstsicher traten die Frauen im Westen auf, denn wenn ihnen ein Mann nicht passte, standen die Bewerber Schlange.

 

Brown konzentriert sich nicht auf spektakuläre Weiber wie Calamity Jane, sondern setzt den ganz normalen Frauen ein Denkmal, die meist unbeachtet den Westen mitgeprägt haben. Bis heute.

 

 

 

Camus, Albert - Die Pest - 1947

 

Der Roman beschreibt eine Pestepidemie in Oran, ist aber ein Gleichnis für den Zweiten Weltkrieg. Die Story ist einfach: Die Pestepidemie in Oran wird immer schlimmer, die Behörden reagieren immer drastischer darauf und die Bevölkerung versucht mit unterschiedlichen Methoden, das zunehmende Leiden zu verkraften. Die Menschen leiden unter der mörderischen Pest, unter der Angst vor der Pest, unter Quarantäne und Trennung von den geliebten Menschen ausserhalb, unter Einsamkeit, falschen Hoffnungen und dem Verlust der Hoffnung. Sogar das Ende der Pest ist schrecklich, weil die Verluste sichtbar werden und die Angst gross ist, in den letzten Wochen noch krank zu werden. Im Zentrum der Geschichte steht der Arzt Bernard Rieux und seine Freunde und engsten Bekannten, die auf unterschiedliche Weise mit der Pest zurechtzukommen versuchen.

 

Filetstück des Romans sind nicht etwa spannende Handlungsstränge, sondern die genaue Beschreibung des seelischen Kampfes der Menschen angesichts der Katastrophe. Die Würze dazu sind eingestreute philosophische Erkenntnisse, die über Oran und die Protagonisten hinausführen. Da haben sich die Franzosen, die den Weltkrieg erlebt haben, zutiefst verstanden gefühlt. Besonders präzise gelang Camus die Schilderung, wie ohnmächtige Menschen dennoch Widerstand leisten. «Die Pest» ist in Frankreich zum Schulstoff geworden. Einen Teil des Romans hatte Camus während des Krieges in Le Chambon-sur-Lignon geschrieben. Das Städtchen wurde nach dem Krieg bekannt, weil die Christen (Hugenotten) dort und im Umland tausende jüdische Kinder vor den Nazis versteckt und gerettet hatten. 1957 hat Camus den Literatur-Nobelpreis erhalten, 1960 kam er bei einem Autounfall ums Leben.

 

«In dieser äussersten Einsamkeit konnte niemand auf die Hilfe des Nachbarn zählen, und jeder blieb mit seinen Gedanken allein. Wenn einer von uns zufällig versuchte, aus sich herauszugehen und etwas von seinen Gefühlen zu verraten, so war die Antwort, die er erhielt, fast stets verletzend, gleichgültig, wie immer sie ausfiel.»

«Die zutiefst gefühlten Schmerzen wurden meistens in den nichtssagenden Ausdrucksformeln der Unterhaltung wiedergegeben. Nur so erlangten die Gefangenen der Pest das Mitgefühl des Hauswarts oder die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer.»

«Denn die Wirklichkeit besitzt eine schreckliche Kraft, die zum Schluss alles überwindet.»

«Die Pest hat alle der Fähigkeit zur Liebe und sogar zur Freundschaft beraubt. Denn die Liebe verlangt ein wenig Zukunft, und für uns gab es nichts mehr als Augenblicke.»

«Und da sie nicht immer an den Tod denken konnten, dachten sie an nichts. Sie waren in den Ferien.»

«Ich habe so viele Reden gehört, die mir fast den Kopf verdreht hätten und die genügend andere Köpfe verdrehten (...) dass ich begriffen habe, dass der Menschen ganzes Elend von ihrer unklaren Sprache herrührt.»

«Ich glaube, dass ich am Heldentum und an der Heiligkeit keinen Geschmack finde. Was mich interessiert, ist, ein Mensch zu sein.»

«Es ist schliesslich zu dumm, nur gerade der Pest zu leben. Natürlich muss ein Mann sich für die Opfer schlagen. Aber was nützt sein Kämpfen, wenn er dabei aufhört, irgend etwas anderes zu lieben?»

«Aber wer zu lange warten muss, wartet nicht mehr, und unsere ganze Stadt lebte ohne Zukunft.»

«Bei den einen war durch die Pest eine tiefwurzelnde Skepsis entstanden, die sie nicht mehr loswerden konnten. Die Hoffnung hatte keine Macht mehr über sie. Und während die Pestzeit bereits vorüber war, fuhren sie fort, nach ihren Regeln zu leben.»

«Die ganze Stadt stürzte hinaus, um jene bedrängende Minute zu feiern, da die Zeit des Leidens zu Ende ging und die Zeit des Vergessens noch nicht angebrochen war.»

«Wenn es etwas gibt, das man immer ersehnen und manchmal auch erhalten kann, so ist es die liebevolle Verbundenheit mit einem Menschen.»

 

Francis Schaeffer geht in seinem Buch «Gott ist keine Illusion» auf Albert Camus ein: «Camus stellt den Leser vor eine schwere Wahl: Entweder muss er dem Arzt zur Seite stehen und die Pest bekämpfen, wobei er – so sagt Camus – gleichzeitig Gott bekämpft; oder er kann sich auf die Seite des Priesters stellen, die Pest nicht bekämpfen und damit unmenschlich sein.» Camus folgt damit Charles Baudelaire, der sagte: «Wenn es einen Gott gibt, so ist er der Teufel.» Eine logische Folge, wenn man davon ausgeht, dass es in der Welt keine absuluten Normen gibt.

 

Der Christ steht jedoch nicht vor diesem Dilemma, weil das Leben für ihn nicht sinnlos ist, das Schicksal nicht blind, zufällig und grausam. Gott ist genauso gegen die Pest wie der Arzt, um im Bild von Albert Camus zu bleiben. Schaeffer: «Ein Christ kann mit ganzem Herzen das Übel in der Welt bekämpfen; er kann das Böse hassen und dabei wissen, dass auch Gott es hasst – und zwar so sehr, dass er Christus dafür sterben liess!»

 

 

 

Coben, Harlan - Der Preis der Lüge - Goldmann, 2018

 

In diesem Thriller geht es um zwei Buben, die entführt wurden und seither spurlos verschwunden sind. Ein ungelöster Fall, die Spuren sind kalt. Zehn Jahre später wird die Spur wieder heiss: Einer der Buben scheint in London aufgetaucht zu sein. Aber ist er der, für den er sich ausgibt? Und wo ist der zweite Bub?

 

In dieser perfekt aufgebauten und getimten Story schickt uns der Autor auf eine spannende Reise, die nach London führt, nach Rom, in die Niederlanden und nach New York und Umgebung. Vorangetrieben werden die Ermittlungen von charismatischen Figuren, zum Beispiel dem Normalo Myron Bolitar, dem notfalls brutalen und steinreichen Win, dem durchgeknallten Zorra mit Perücke und Frauenkleidern, er ist der Mann fürs Grobe, und ein paar nicht mehr so jungen und ziemlich schrägen Wrestlerinnen.

 

Coben legt hier einen recht aktuellen Thriller vor, den man gerne in einem Zug lesen würde. Quasi ein Hochglanz-Roman. Die üblichen Handlungsverzögerungen, die bei manchen Autoren zu weitschweifender Langeweile ausufern, hält Coben recht kurz und spickt sie mit witzigen Beobachtungen und überraschenden Nebenhandlungen. Clever, den Win-Handlungsstrang in der ersten Person zu schreiben und den Rest als Aussenstehender zu berichten. Ungewöhnlich auch das Happy-End: Win nimmt an Bolivars Hochzeit teil und vermittelt dem geneigten Leser ganz nebenbei das Ende der Geschichte. Funktioniert.

 

 

 

Cornwell, Patricia - Blinder Passagier - Hoffmann und Campe, 2001

 

In diesem Thriller um die Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta geht es um einen Serienmörder, der seine Opfer grauenhaft zurichtet. Der in der Ich-Form geschriebene Roman schildert ein Geflecht von Problemen, durch die sich Kay hindurchkämpfen muss. Dabei fällt die frauliche Sicht auf, die den Roman prägt: Im Gegensatz zu den meisten männlichen Helden muss Kay Scarpetta auch klarkommen mit ihrer eigenen Trauer, mit der Sorge um ihre Nichte, mit der nervtötenden Schwester, mit intrigierenden Frauen in der Polizei-Hierarchie, mit einem Mitarbeiter, der passiven Widerstand leistet und einem zwar hervorragenden Mitarbeiter, der ihr aber mit seiner Unbeherrschtheit dauernd auf den Keks geht. Hier geht's nicht nur um Leichen und Verbrechen und Lebensgefahr, hier geht's auch um Beziehungen. Das ist die besondere Note, die besondere Stärke dieses Buches. Der Thriller selbst liegt eher am Rande der Glaubwürdigkeit. Das Ende ist etwas doof geraten, aber bis dahin folgt man der Gerichtsmedizinerin gern.

 

 

 

Dayan, Yael - Mein Kriegstagebuch - Die Tochter Moshe Dayans im Sinaifeldzug 1967

 

Das Buch von 1967 ist naturgemäss kurz geraten: Die kriegerische Unterbrechung von Yael Dayans Zivilleben dauerte nur ein paar Tage. In dieser Zeit lernte sie den Krieg kennen, den Tod, Verwesungsgestank und Brandgeruch. Und sie begleitete den Divisionsführer Arik Sharon aus der Nähe, erlebte die Angst mit und die Erschöpfung nach dem Sieg, den Jubel über die Eroberung von Jerusalems Altstadt, die Erleichterung, nachdem keine arabische Kanone mehr israelisches Gebiet beschiessen konnte. Und sie lernte ihren Mann kennen.

 

Dayan schreibt nicht über Strategie, zeichnet kein Bild des ganzen Krieges. Sie fokussiert auf ihre Erlebnisse im Rahmen von Sharons Division. Sie bringt die Stimmung in der Armee mehrmals auf den Punkt, und ihre Schilderung, wie die Soldaten auf die Eroberung von ganz Jerusalem reagieren, ist hervorragend.

 

Sie nähert sich den Feinden mit Respekt, versucht, sich auch in sie einzufühlen. Zu ihrer Überraschung lassen sie die vielen Leichen fast kalt. Doch in einem aufgegebenen Zelt von ägyptischen Offizieren, wo all die privaten Dinge noch herumliegen, trifft es sie: Es sind auch Menschen mit Wünschen, Sehnsüchten und Gefühlen. Das Mitleid mit dem Feind ist stärker als die Häme über seine Niederlage.

 

 

 

De Saint-Exupéry, Antoine - Le Petit Prince - 1945

 

Das Buch ist aus der Sicht der Kinder geschrieben und setzt sich mit der Welt der Erwachsenen auseinander. Diese erscheint recht seltsam, zum Beispiel, dass Erwachsene Macht ausüben oder Dinge besitzen wollen, ohne zu wissen wozu. Die Story ist simpel, die Dialoge tiefgreifende Reflektionen über das Leben und die wirklich wichtigen Dinge.

 

Der Autor schreibt einfache Sätze, jedoch kein simples Französisch. Einige Formen sind nicht geläufig und einige Begriffe kannte ich nicht (apprivoiser, réverbère, muselière). Das Nachschlagen der Wörter lohnt sich, weil sie mehrmals wiederholt werden.

 

 

 

Deschner, Günther - Reinhard Heydrich, Statthalter der totalen Macht - Bechtle 1977

 

Die ausführliche Biografie schildert Reinhard Tristan Eugen Heydrich (1904-1942) als typischen Nationalsozialisten: Gross, blond, sportlich, diszipliniert, rücksichtslos seine Ziele verfolgend und Hitler treu ergeben. Er spielte hervorragend Geige und focht und segelte aussergewöhnlich gut. Er konnte reiten und flog mehrere Kriegseinsätze mit einer Messerschmitt 109. Und er hatte, ähnlich wie Hitler, ein guten Instinkt für mögliche Gegner und das Streben nach Macht.

 

Heydrichs Militärkarriere begann mit einer Schlappe: Er wäre gerne Admiral geworden, wurde aber aus der Marine ausgeschlossen, weil er sich einem Mädchen gegenüber unehrenhaft verhalten hatte. Er heiratete Lina von Osten aus Fehmarn, die eine glühende Nazi-Verehrerin war. 1931 trat er in die Partei an und begann seine Karriere als Nachrichtenmann bei Heinrich Himmlers SS. Es begann bescheiden: Seine Frau bewirtete die Sitzungsteilnehmer in der kleinen gemeinsamen Wohnung oder tippte das Protokoll. Heydrich nahm sich den britischen Geheimdienst zum Vorbild und baute rasch ein Netz von Informanten auf. Er bezog immer grössere Büros und sammelte immer mehr Namen, Fakten und Verdächtigungen über politische und weltanschauliche Gegner. Alles lief bei ihm zusammen.

 

Heydrichs Auffassungsgabe war legendär. Wenn jemand bei ihm vortragen musste, soll er mehrmals schon während des Vortrags begriffen haben, worum es geht, was die Probleme sind und was getan werden muss. Anderseits wurde er wegen seiner hohen Stimme oft belächelt und in jungen Jahren gar verspottet («die Ziege»). Bei gesellschaftlichen Anlässen soll er sich mehrmals und ohne Einsicht blamiert haben.

 

Obwohl Heydrich seinen Chef Heinrich Himmler (1900-1945) verachtete, arbeitete er unterwürfig-zweckdienlich mit ihm zusammen; der Nachrichtendienst und die Macht der Schutzstaffel (SS) wurden ständig um- und ausgebaut, bis die SS schliesslich zu einer fast unabhängigen Macht im Staate wurde, welche die Polizei und Inlandgeheimdienst umfasste. Heydrich schuf mit Himmler eine Organisation, die alles aus dem Weg räumen sollte, was Hitler nicht passte. Die Liste der künftigen Opfer wurde immer länger: Elf Millionen Juden in ganz Europa, politische Gegner innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung, Sozialisten und Kommunisten, Katholiken, weltanschauliche Gegner aller Art, Widerstandskämpfer und mehr. Ganz besonders hasste Heydrich den Katholizismus und die Juden. Er schnüffelte unablässig nach Energien, die den Nazis hinderlich werden konnten.

 

Nach der Planung schritt Heydrich zur Tat. Er wollte den Juden in Deutschland das Leben schwer machen, ohne sie offen zu verfolgen. Sie sollten auswandern. Folglich unterstützte er die Zionisten, weil sie zehntausende Juden nach Palästina brachten. Hunderttausende verliessen Deutschland, zahlten die Reise, mussten Vermögen zurücklassen – und es gab kaum Kritik aus dem Ausland. Von den brutalen Ausschreitungen in der Kristallnacht wurde er überrascht. Sie war eine Niederlage für Heydrich und Himmler, die genau solches Aufsehen vermeiden wollten. Trotzdem beugten sie sich den Befehlen von Hitler-Goebbels-Göring und wiesen ihre Einsatzkräfte an, sich nicht einzumischen.

 

Nach dem Angriff auf Polen bekam die Nazis plötzlich drei Millionen Juden in die Gewalt. So viele würden nicht schnell genug auswandern; auch fehlte ihnen das Geld. Die Umsiedlungspläne – auch Madagaskar war ein Thema – wurden zunehmend unrealistisch. Obwohl Heydrich vorerst daran festhalten wollte, beugte er sich Hitlers Befehlen und deportierte die Juden und Zigeuner nach Polen. Dort wurden sie in Städten und Ghettos konzentriert. Die Gaskammern gab es noch nicht, aber Heydrichs Kommandos verwandelten Polen in einen Wartesaal des Todes.

 

Heydrichs Einsatztruppen folgten der kämpfenden Truppe und töteten immer grössere Mengen Juden und aktive Kommunisten. Es begann mit  ein paar Dutzend Erschiessungen, dann wurden immer höhere Zahlen gemeldet: 127, 1013, 10'600, 45'467, 51'000, 95'000. Der Autor macht deutlich, dass Heydrich den Massenmord zwar ausführen liess, dass ihm der Auftrag aber nicht passte. Er wolle nicht «der Mülleimer des Reiches» sein, sondern an die Schalthebel der Macht. 1941 konnte er sie endlich ergreifen: Hitler machte Reinhard Heydrich zum stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. Das heisst nichts anderes, als dass er Diktator über das Gebiet der Tschechoslowakei wurde. Er genoss Hitlers Vertrauen und hatte keine anderen Vorgesetzen mehr über sich. Heydrich zog mit seiner Familie in ein Schloss bei Prag. Er hatte den Auftrag, die Ruhe im Land herzustellen und die Produktionskraft für Deutschland zu fördern.

 

Er kam mit klaren Vorstellungen in Prag an. Die Deutschen sollten «weniger dulden und die Tschechen weniger reizen». Er betrachtete das Land ohne Ressentiments und traf zweckmässig seine Anordnungen. Sofort liess er etwa 500 Widerstandskämpfer töten. Rund 5000 Personen wurden verhaftet. Etwa 90 Kurzwellensender wurden zum Schweigen gebracht. Er machte sich die Regierung durch zweitweise Verhaftungen und Versprechungen gefügig. Das Volk wollte er auf seine Seite ziehen, indem er den Schwarzmarkt unterband. Vor allem Lebensmittelhändler wurden hingerichtet, darunter auch Deutsche. Er empfing Arbeitervertreter auf der Prager Burg, was noch nie vorgekommen war, und verlangte von ihnen vollen Einsatz in der Produktion. Dafür bot er ihnen bessere Löhne, bessere Arbeitskleidung, mehr freie Tage und Gratisferien. Der Widerstand erlahmte, die Produktion stieg.

 

Am 20. Januar 1942 war Heydrich in Berlin. Er führte den Vorsitz bei einer Konferenz in einer Villa am Grossen Wannsee. Sein verschleiert formulierter Auftrag: Die Kräfte bündeln, um die Endlösung der Judenfrage für ganz Europa zu erreichen. Die Federführung für diese Aufgabe liege nun bei ihm, sagte Heydrich. Den Befehl dazu hatte er von Göring erhalten, der wiederum von Hitler beauftragt worden war. Trotz aller Verschleierung ist klar: Hier wird beschlossen, möglichst viele Juden in den Osten zu befördern. Wer den Transport und die Zwangsarbeit überlebt, wird getötet. Adolf Eichmann, der das Protokoll geführt hatte, sagte 1961, bei den «Lösungsmöglichkeiten» habe es sich um «Tötungsmöglichkeiten» gehandelt. Heydrich hat auch diesen Führerbefehl reibungslos erfüllt und nach der Sitzung einen Schnaps gereicht. Die Deportationen und Massenerschiessungen durch die Einsatzkommandos fielen in Heydrichs Zuständigkeit, die späteren Vergasungsaktionen waren ein Sonderbefehl Himmlers.

 

Heydrichs kometenhafter Aufstieg blieb den Westmächten nicht verborgen. Sie hielten ihn für einen der fähigsten und somit gefährlichsten Nazis. Die Engländer flogen zwei Widerstandskämpfer in die Tschechei ein, die Heydrich im Mai 1942 töteten. Seine letzten Worte richtete er an seine Frau: «Geh zurück nach Fehmarn.»

 

Über die Gründe für das Attentat unter dem Codenamen «Anthropoid» kann der Autor nur spekulieren. Als er das Buch schrieb, waren die englischen Geheimdokumente noch nicht zugänglich. Und die Alliierten hätten ja auch andere Nazis töten können. Hier einige mögliche Motive für das Attentat:

- Heydrich war oft ohne Schutz und Eskorte unterwegs

- man wollte verhindern, dass er in den Westen versetzt wird

- man wollte ihn für die Verbrechen an den Juden bestrafen

- man wollte Spione schützen, die er vermutlich enttarnt hätte

- die Exiltschechen in London wollten brutale deutsche Vergeltung provozieren, um den Widerstand zu mobilisieren und/oder um die Alliierten dazu zu bringen, vom Münchner Abkommen zurückzutreten. Das taten sie dann auch, und so konnte die Tschechoslowakei 1945 in den alten Grenzen wieder erstehen. Die Attentäter sind längst Nationalhelden.

 

Heydrich wurde von den Nazis als Held und Märtyrer gefeiert. Er erhielt den höchsten Nazi-Orden, der von Hitler nur zweimal vergeben worden war. Das Attentat wurde als feige bezeichnet, und Hitler wollte mehrmals aus Rache ein Blutbad anrichten lassen mit zehntausenden Toten. Er zog das nicht durch, aber auch so wurden insgesamt gegen 5000 Personen getötet. Die Ortschaften Lidice und Lezaky wurden völlig zerstört. Auch die beiden Attentäter verloren ihr Leben. Weitere Racheakte waren Verhaftungen und Plünderungen von Juden («Aktion Reinhard»). Zudem begann man im KZ Ravensbrück und KZ Dachau, Sulfonamide wegen ihrer antibakteriellen Wirkung an Häftlingen zu testen, denn ein wirksames Antibiotikum hätte vermutlich Heydrichs Leben gerettet. Nach dem Krieg wurde der Arzt, der die Versuche gemacht hatte, deswegen zum Tode verurteilt.

 

Die Rache der Deutschen hat den Hass der Tschechen verstärkt und ihren Widerstandswillen angestachelt. Bis Kriegsende kam es zu weiteren blutigen Kämpfen. 1945 entlud sich der Hass der Tschechen und sie vertrieben etwa 800'000 Deutsche und töteten auch viele. 1946 wurden weitere 2,3 Millionen Deutsche ausgesiedelt und ihr Besitz beschlagnahmt. Heydrichs Plan, die eroberten lieben Tschechen deutschfreundlich zu stimmen, war gescheitert. Womöglich hatte er gar nie funktioniert.

 

Es fällt schwer, Heydrich einzuordnen. Einer seiner engsten Mitarbeiter sagte nach fünf Jahren enger Zusammenarbeit: «Heydrich ist nicht zu typisieren.» Er konnte die Leute mit seiner Geige rühren und mit sportlichen Leistungen begeistern. Er entschied oft rasch und zweckmässig, allein den Zielen Hitlers verpflichtet. Und er hat Hitlers Befehle stets ausgeführt. Wäre er am Leben geblieben, hätte er möglicherweise den Widerstand in Frankreich und Belgien noch brutaler niedergeknüppelt, als das ohnehin schon geschah.

 

Weltanschaulich hatte sich Heydrich gelöst von den gesellschaftlichen Moralvorstellungen und Normen. Er war streng katholisch erzogen worden und hasste später den Katholizismus mehr als andere Kräfte. Deschner schreibt, Heydrich sei antikirchlich und antichristlich gewesen. «Er war ein Heide.» Der Einzelgänger Heydrich strebte immer nach Spitzenleistung – zuletzt auch in der bedenkenlosen Anwendung von Gewalt. Er hat nicht gross über den Nationalsozialismus nachgedacht, sondern die Tat gesucht. Hier hatte er Macht, hier konnte er nach eigenem Gutdünken handeln. Das scheint ihn am meisten motiviert zu haben. Heydrich sei seiner Zeit voraus gewesen, schreibt Deschner; er sei eine Art moderner Manager des 21. Jahrhunderts gewesen, ohne Skrupel und moralische Bedenken.

 

Deschners Buch schildert ausführlich die Herkunft des späteren «Henkers» und «Schlächters», die strenge Familie, die hohen Erwartungen, das Mobbing, die Einsamkeit und die steile Karriere. Der Autor schreibt wenig über Heydrichs persönliches Verhalten: War er grausam zu Menschen, zu seiner Frau? Hat er selber gemordet? Oder hat er den Massenmord von ferne befohlen, abdelegiert und sich nicht damit befasst? In Deschners Buch wirkt es manchmal so, als hätte Heydrich klug regieren wollen, hart und gönnerhaft, und die Grausamkeiten nur unwillig erledigt, weil er sie als Notwendig betrachtete.

 

Im Unterschied zu anderen Berichten schildert Deschner das Attentat nicht als ein Heldenepos, sondern als eine lange Reihe von peinlichen Pannen. Demnach war es ein Zufall, dass Heydrich nach acht Tagen seinen Verletzungen erlegen ist und das Attentat schliesslich gelang.

 

Eine gute Zusammenfassung von Heydrichs Leben findet sich hier:

https://www.deutschlandfunk.de/mann-mit-eisernem-herzen.1184.de.html?dram:article_id=268424

 

 

 

Dornberger, Walter - Peenemünde - Die Geschichte der V-Waffen. - Ullstein 11. Auflage 2000

 

Walter Dornberger leitete in der Nazizeit die Entwicklung der ersten Rakete, die in den Weltraum vorstiess und die Schallmauer durchbrach. Er war Chef der Raketenabteilung des Heereswaffenamtes und Kommandeur des Raketentestgeländes in Peenemünde. Zu seinem Team gehörte unter anderem auch Wernher von Braun, der später in den USA mithalf, den Flug zum Mond zu ermöglichen. Er hat die Saturn-V-Rakete mitentwickelt. Andere Ingenieure aus Dornbergers Team halfen nach dem Krieg den Sowjets, die deutsche Rakete nachzubauen und weiterzuentwickeln.

 

Dornberger schildert den Weg von der ersten Raketenbegeisterung in den 1930er-Jahren bis zur serien- und einsatzreifen Raketenwaffe gegen Kriegsende. Der Weg zum Ziel war mit ungeheuren technischen, finanziellen und organisatorischen Hindernissen verstellt. Es ging darum, Fachwissen aus allen möglichen Bereichen zusammenzuführen, um etwas so Neues wie eine flüssigkeitsgetriebene Grossrakete bauen zu können. Dauernd fehlte das richtige Material, das nötige Geld oder ein passendes Gerät, das erst noch entwickelt werden musste.

 

Da man keine Zeit hatte für Grundlagenforschung, wurden laufend Raketen gebaut, mit Flüssigtreibstoff gefüllt und auf Testflügen verschossen. Die hat man dann ausgewertet, neue, verbesserte Raketen gebaut und erneut getestet. Try and error. Der Raketenantrieb war das Aggregat 4 (A4), das von der Nazipropaganda zur «Vergeltungswaffe» hochstilisiert wurde (V2). Die V1 existierte damals bereits, war jedoch kleiner und etwa gleich schnell wie die schnellsten Jagdflugzeuge. Die V2 sollte die Schallmauer durchbrechen und dadurch nicht mehr abgewehrt werden können.

 

Reihenweise sind die Raketen beim Start umgefallen und explodiert, ins Taumeln geraten, während des Fluges aus der Bahn geraten oder in der Luft auseinandergebrochen. Noch 1944 erreichte nur ein Bruchteil der A4 das Ziel. Weil nach einem Fehlschlag nur Fetzen übrigblieben, war es unmöglich, aus den Trümmern auf die Fehler zu schliessen. Man musste weiterpröbeln, bis das Ding einwandfrei flog. Das war erst kurz vor Kriegsende der Fall. In den letzten Wochen und Monaten konnten noch 3200 Stück verschossen werden. Sie hatten keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf. Aber die Deutschen hatten die Schallmauer durchbrochen und das Tor zum Weltall aufgestossen. Auf diese grossartigen Leistungen legt Dornberger den Schwerpunkt seines Buches. Es ist entsprechend techniklastig, jedoch durchaus geniessbar.

 

Ein zweiter Schwerpunkt ist das unglaubliche Kompetenzgerangel in der Nazizeit. Nie war Dornberger sicher, ob er nun die nötigen Kompetenzen und das nötige Geld erhält oder nicht. Nie war er sicher vor Spott und Ablehnung oder Intrigen. Mit Lügengeschichten wollte man ihm wichtige Mitarbeiter wegnehmen, darunter Wernher von Braun. Dann wurde er ausgelacht, weil man die Raketen für Hirngespinste hielt. Als sie endlich flogen, wollte man ihn absetzen und die Versuchsanstalt in Peenemünde von einem Heeresbetrieb in ein Privatunternehmen umwandeln. Oder man jubelte ihm untaugliche Mitarbeiter unter oder setze ihm einen Karriere-Militär vor die Nase, der vom Raketenbau nichts verstand. Es dauerte Jahre, bis Hitler das Raketenprogramm akzeptierte und förderte. Ein Glück, dass die Deutschen in ihrem Führungschaos («Teile und herrsche») nicht vom Fleck gekommen sind. Ein Glück auch, dass das wertvolle Aluminium zu knapp wurde und man den Sprengkopf der V2 nicht auf die gewünschten 1000 kg brachte.

 

Bemerkenswert ist auch, was Walter Dornberger nicht schreibt. Anschaulich schildert er die Schrecken eines britischen Bombenangriffs auf Peenemünde - kein Wort davon, dass er seit Jahren genau das gleiche plante, nämlich eine Terrorwaffe, die auf London abgeschossen werden sollte. Kein Wort auch über die Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, die unter grausamen Bedingungen beim Bau der V2 ums Leben gekommen sind. Politik lässt er weitgehend aus, und seine Begegnungen mit den Nazigrössen schildert er konsequent kritisch. Dornberger konzentriert sich total auf die tollen technischen Leistungen der Deutschen und auf seine Schwierigkeiten mit der Nazi-Hierarchie. Und das ist spannend und unterhaltsam zu lesen.

 

Bis Kriegsende wurden 7500 V1 erfolgreich verschossen, 2419 sind in London detoniert. Sie hatten einen Sprengkopf von 874 kg. Tausende gingen beim Start kaputt oder wurden von den Engländern abgeschossen. Von der A4 oder V2, die in Peenemünde entwickelt worden waren, kamen 3200 Stück zum Einsatz. Ihr Sprengkopf wog 738 kg, hatte aber wegen der hohen Geschwindigkeit eine grosse Wirkung. Die V2 konnten nicht abgewehrt werden, da sie etwa Mach 5 erreichte. 1500 V2 wurden auf England abgefeuert und 1600 gegen den Hafen von Antwerpen. Die V2 tötete etwa 8000 Menschen. Bei der Produktion sind 16'000 bis 20'000 KZ-Häftlinge ums Leben gekommen. Man kann sagen, dass die V2 vermutlich die einzige Waffe ist, die bei der Herstellung mehr Menschen getötet hat als nachher im Einsatz.

 

Heute sind das Historisch-Technische Museum Peenemünde und das KZ Mittelbau-Dora öffentlich zugängliche Museen und Gedenkstätten.