Aus die Maus

(K)eine Kindergeschichte

Von Vulkanen, Schluchten und einem stinkenden Fluss oder

Wie eine Maus und eine Ratte ihr grösstes Abenteuer meistern.

Schon von weit her war das Grochsen und Röcheln der Ratte zu hören. Sie schleppte sich immer näher zur Müslihöhle heran. Zum ersten Mal dachte das Müsli, dass ihm die Röchelei langsam auf die Nerven geht. Mit dem Ratz ging eigentlich immer alles zu langsam. Er ist ein Bremsklotz in meinem Leben.

Jetzt kam er aus einem Gebüsch hervor und platzte fröhlich los: «Komm, wir hauen hier ab. Wir gehen ins Land der Präriehunde. Schnauf. Röchel.»

«Warum sollten wir das tun?», fragte das Müsli.

«Weil die Präriehunde grosse Höhlen bauen. Für uns sind das wahre Paläste, und wir müssen nie mehr graben. Grochs. Wir übernehmen einfach eine leerstehende Höhle und führen ein tolles Leben. Gras und Wurzeln hat es dort in Hülle und Fülle. Das Land der Präriehunde ist endlos. Weitsicht auf alle Seiten. Rundum Himmel.»

 

Das Müsli spitzte die Ohren. Es hatte tatsächlich keine Lust mehr, sich ein schönes Mauseloch zu graben. Paläste und genug Gras – das war doch ein Abenteuer wert. «Kennst du den Weg?» Der Ratz grinste: «Ja. Eine Schlucht, ein Sumpf, ein Fluss – dann sind wir da.»

«Bist du sicher?», fragte das Mäuslein.

«Ich habe sehr zuverlässige Informationen. Schnauf. Ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der davon gehört hat. Eine erstklassige Quelle.»

 

Wer nichts sammelt, ist flexibel. Proviant brauchten sie nicht und das Fell hatten sie schon an. «Los!», sagte das Mäuslein, stand auf und ging langsam davon. Der Ratz sagte etwas von toll und nicht bereuen und das lohnt sich und grochste hinterher. Es dauerte nur etwa eine Woche, bis sie das vertraute Waldland und das Wiesenland hinter sich hatten. Die Gegend wurde nun wilder, und dann kamen sie an die Todesschlucht. Sie war das Ende ihrer bekannten Welt. Die Schlucht war nicht sehr breit, aber tief. Ein eiskalter Wind stieg aus der Tiefe auf, und der Grund der Schlucht verlor sich in Finsternis und Nebel. Es hiess, niemand habe es je vom Grund der Schlucht wieder an die Oberfläche geschafft. Sie suchten nach einer Möglichkeit, wie sie die Schlucht überwinden könnten. Eine Brücke oder eine enge Stelle. Tatsächlich fanden sie eine schmale Stelle, wo die Schlucht nur drei oder vier Meter breit war. Und darüber hatten ein paar Bäume ihre Zweige verschränkt. «Wir gehen über diese Zweige, von Ast zu Ast, doch einen Absturz überlebt keine Laus», sagte das Mäuslein. «Aus die Maus», sagte der Ratz. Das wurmte das Mäuslein. Und es ärgerte sich, weil ihm auf die Schnelle kein cooler Spruch einfiel, der sich auf Ratz reimte.

 

Sie kletterten über die Zweige auf einen Baum auf der anderen Seite. Das war etwas rutschig vom Nebel, der aus der Schlucht aufstieg, aber es gelang. «Problem gelöst», röchelte der Ratz, «jetzt kommen noch die Feuersümpfe.» Das Mäuslein meinte, das klinge ja sehr gemütlich, und sie setzten ihren Weg fort.

 

Die Feuersümpfe waren eine weite Ebene vulkanischen Ursprungs. So weit man sehen konnte, stieg Rauch und Dampf auf. Es gab Tümpel mit heissem Wasser oder voller Schwefelsäure. Von Zeit zu Zeit spuckten Geysire kochendes Wasser oder sonstwas in die Luft, und an einigen Stellen flogen gelegentlich glühendheisse Lavafetzen durch die Gegend. Das Mäuslein hielt sein Näschen in die saure Luft und sagte: «Am Tag sehen wir die Tümpel und Löcher, in der Nacht sehen wir die Lava. Also sollten wir im Morgengrauen losziehen, dann sehen wir vielleicht beides.» Der Ratz schaute das Mäuslein an und sagte: «Du bist so schlau!»

 

So zogen sie am nächsten Morgen los, lange vor Sonnenaufgang, und schon vor Mittag hatten sie die Feuersümpfe hinter sich. Zuerst verschnauften sie; nicht weil sie müde waren, sondern weil sie nach den ganzen Dämpfen zuerst einmal frische Luft brauchten. Dann zogen sie weiter. Sie ahnten nicht, dass das Schicksal bereits zugeschlagen hatte. Denn sie wussten nicht, dass sie beim Feuerberg hätten nach links abbiegen müssen. Hatte es der Ratz vergessen? Oder hatte sein Freund vergessen, es ihm zu sagen? Zudem war der Feuerberg, ein eher kleiner Vulkan, inzwischen erloschen. Er war nicht mehr zu unterscheiden von den anderen dampfenden und rauchenden Hügeln, und davon gab es viele.

 

Die Landschaft war nun trocken, aber keine Wüste. Es gab genug Büsche zu knabbern, Wasserlöcher, Bächlein, und Nischen zum Ruhen. Manchmal fanden sie auch knusprige Sachen, die von den grossen Zweibeinern mit den winzigen Nasen fallengelassen worden waren. Nach zwei oder drei Tagen rochen die Maus und die Ratte mit ihren feinen Nasen das Unheil. Je weiter sie gingen, desto mehr stank es. Schliesslich sahen sie es: Ein Fluss, ein Strom, eine stinkende Brühe, die mit starker Strömung vorbeifloss. Eine Unmenge gelblich-braunes Wasser. Der Pississippi. Wasser, so weit das Auge reichte. Die Bäume am anderen Ufer sahen auf diese Entfernung aus wie Büsche. Dort mussten sie hin.

 

Zunächst liessen sich das Mäuslein und der Ratz nicht abschrecken, sie bauten verschiedene Flosse und Boote aus Holz und Blättern und versuchten, den Pississippi zu überqueren. Aber die Strömung war zu stark und riss sie mit – aber nicht hinüber. Am Ufer gab es starke Wirbel, die sie gleich wieder zurücktrieben. Hilflos waren sie dieser Kraft ausgeliefert. Ihre Enttäuschung wuchs. Sie gaben ihre Versuche auf und wanderten noch einige Tage am Ufer auf und ab, doch da war keine Brücke, keine Furt, keine enge Stelle, keine Möglichkeit. Nur der Gestank war immer da und ging ihnen auf die Nerven. Wären sie beim Feuerberg abgebogen, hätten sie eine Stelle erreicht, an der sich der Pississippi in dutzende kleine Flüsse aufteilte und der grösste Teil des Wassers unterirdisch weiterfloss. Dort wären sie leicht hinübergekommen, aber diese Stelle lag nun zwei, drei Wochen flussabwärts.

 

«Wie kommen wir über den Fluss? Was hat dein zuverlässiger Freund genau gesagt?», keifte das Mäuslein. «Irgendwie muss es gehen», sagte der Ratz kleinlaut. Schliesslich gaben sie auf und machten sich auf den Heimweg. Das Mäuslein und der Ratz liessen die stinkende Brühe hinter sich und schlichen den Feuersümpfen entgegen. Kein Wort sprachen sie. Mit starren Blicken zogen sie durch die Sümpfe. Wie eine winzige Armee, die den Krieg und den Mut verloren hatte und sich auf dem Rückzug befand. Die Maus nahm diesmal wenig Rücksicht auf den Ratz und ging voraus. Wenn es überall blubbert und zischt, hört man wenigstens das Gegrochse nicht, dachte das Mäuslein. Hat mich auf so eine blödsinnige Reise mitgeschleppt, das dumme Vieh.

 

Plötzlich ein lautes Quieken. Das Mäuslein drehte sich um und sah, dass der Ratz von einem kleinen Lavafetzen getroffen worden war. Das linke Ohr brannte und Rauch stieg auf. Bis das Mäuslein zurückgerannt war und ein wenig Wasser gesucht und auf den Ratz gespritzt hatte, war es zu spät: Dem Ratz fehlte ein Teil des linken Ohres, und aus seinem Fell stieg noch feiner Rauch auf. Es roch nach verbranntem Haar und Grillfleisch. Der Ratz quiekte ein paarmal vor Schmerz, dann sagte das Mäuslein kühl: «Komm, Niki Lauda, wir müssen schnell weiter.» Ha, aus die Maus war gerächt! Selber schuld, dachte das Mäuslein, du musst halt rennen statt grochsen. Du solltest nicht rauchen, das ist ungesund, dachte es. Bleib positiv, Brandings sind heutzutage voll in Mode, haha.

 

Die Todesschlucht war kein Problem mehr, sie fanden die Brücke über die Zweige und kamen gut vorwärts. Manchmal wimmerte der Ratz ein wenig und grochste dem Mäuslein hinterher, aber weitere Zwischenfälle gab es nicht. Schliesslich kamen sie zum Wohnloch der Maus, wo die Reise begonnen hatte. Hier erwartete sie der nächste Tiefschlag.

 

Offenbar hatte es in der Zwischenzeit wie aus Kübeln geregnet. Das Mauseloch stand voller Wasser und war teilweise zerfallen. Niemand war hier gewesen, der das Wasser mit ein paar Grabarbeiten gestoppt hätte. Der ganze Weg für nichts, dachte das Mäuslein, und alles verloren. «Hilfst du mir wenigstens morgen, hier aufzuräumen?», sagte das Mäuslein wütend. Der Ratz wimmerte leise und nickte. Ohne ein weiteres Wort grochste er davon und verschwand in dem Gebüsch, aus dem er vor der Reise gekommen war.

 

Das Mäuslein schlief einen unruhigen Schlaf, versteckt unter feuchtem Laub. Wenigstens würden sie morgen das Mauseloch aufräumen. Das war dann immerhin etwas. Noch war nicht alles verloren. Aber am nächsten Morgen kam der Ratz nicht. Auch am Mittag war er noch nicht da. Kein Mauseloch. Kein Ratz. Keine Lust auf Erdarbeiten. Dann kam dem Mäuslein eine Idee: Wir wollten doch eine leere Höhle von Präriehunden bewohnen. Das geht doch auch hier: Ich kann ein leeres Mauseloch besetzen. Wenn der Fuchs, die Katze oder ein Raubvogel zugeschlagen hat, bleibt doch oft ein unbewohntes Mauseloch zurück, mit allen Nebenräumen. Gratis und aufgeräumt.

 

Wer nur an sich denkt, ist flexibel. Das Mäuslein stand auf und suchte sich ein leerstehendes Mauseloch. Das ging einfacher als gedacht; schon am gleichen Tag hatte es ein neues Heim am Waldrand gefunden. Und als die Höhle einmal einstürzte, weil eine Wildsau darübergetrampelt war, suchte es sich eine neue Höhle. Und als das Mäuslein merkte, dass diese Höhle schlecht gebaut war, zog es weiter. Von Gegend zu Gegend, von Mauseloch zu Mauseloch, immer schön bequem und ganz zufrieden mit sich selbst. Und die Blätter fielen von den Bäumen, es wurde kalt und dann schossen die Krokusse aus dem Boden. Es wurde Sommer, dann fielen wieder die Blätter und es lag Schnee; dieser schmolz und es wurde ein heisser Sommer.

 

Die kleine Maus war alt geworden. Ihr Fell glänzte nicht mehr. Sie führte ein unaufgeregtes Leben, weil ihre Nase viele Eindrücke und Gefahren nicht mehr wahrnahm. Oft blieb sie den ganzen Tag in der Höhle und knabberte die feinsten Wurzeln ab. War keine mehr da, zog sie um. Neubau, Altbau, ganz egal. Und oft guckte sie aus dem Mauseloch und hing ihren Träumen nach, seufzte, schniefte ein wenig, und manchmal wurde sie traurig. Vielleicht dachte sie dann an alte Abenteuer. An den Ratz. Wenn es gar traurig wurde, zog das Mäuslein wieder um. Es zog oft um. In letzter Zeit fast täglich.

 

«Hallo, komm heraus, ich habe etwas für dich!» pfiff es wie aus einer Silberflöte. Das Mäuslein schaute vorsichtig aus der Höhle. «Aha, da bist du ja», flötete es weiter. «Ich komme von der Zureich Versicherung Laifänddäss und habe heute ein super Angebot für dich.» Vor der Höhle stand eine Amsel, elegant in Schwarz und mit einem prunkigen goldenen Schnabel und passenden goldenen Ringen um die Augen. Lag da der Hauch eines billigen Parfums in der Luft? Sie hüpfte nervös auf und ab und ruckte mit dem Kopf nach links und rechts, hinauf und hinunter. Wo guckt der Kerl bloss hin, dachte das Mäuslein, und sagte müde: «Wie hast du mich gefunden?» Die Amsel ruckelte mit dem Schwanz und antwortete: «Ich habe nicht speziell dich gesucht. Ich besuche alle. Denn mein Angebot ist unschlagbar. Du gibst mir ein paar Würmer und Maden, und dafür bekommst du eine Versicherung Laifä... äh... für die Lebensversicherung bist du wohl zu alt. Bald ist aus die Maus und keiner hat was davon.»

 

Das Mäuslein rümpfte die Nase. Die Amsel flatterte kurz auf und landete wieder. «Tschuldigung, ist mir herausgerutscht. Unsere Sterbeversicherung ist die beste, die es gibt. Du gibst mir jede Woche zwei Würmer oder Maden, dafür garantieren wir dir einen schnellen, sanften, schmerzfreien Tod und ein wunderschönes Begräbnis unter einem repräsentativen moosigen Baum. Selbstverständlich ist das Moos naturgrün und extraweich.» Blitzschnell schlug die Amsel den Schnabel in die Erde, riss ihn zur Seite und pickte nach einem kleinen Wurm und verschlang ihn. «Hör auf, in meinem Vorgarten umzugraben!», sagte die kleine Maus, «sonst brauchst du eine wirklich gute Unfallversicherung.»

 

«Tschuldigung, war ein Reflex», sagte die Amsel. «Entscheide dich schnell, ein so günstiges Angebot gibt es nicht wieder.» Sie flatterte auf und flog davon. Die Maus hörte sie noch flöten: «Ich komme wieder.» Dann war sie weg und das schönste Geschenk des Waldes senkte sich wieder über das Mauseloch: Die Stille.

 

Die Maus zog sich in ihre Höhle zurück und dachte nach. Sie würde bald sterben, hatte der komische Vogel gesagt. Könnte stimmen. Vielleicht war so eine Sterbeversicherung eine ganz gute Sache. Dann würde ein reiches Leben zu Ende gehen, ein Leben mit vielen Abenteuern. Und immer war der Ratz dabei gewesen.

 

Der Ratz! Dieser grochsende Mistkerl hat mich um alles betrogen und am Ende schändlich im Stich gelassen. Ich bin jetzt besser dran als mit diesem Bremsklotz. Ich habe alles verloren wegen diesem röchelnden Blödmann, dabei war er einmal mein Freund gewesen. Mein Freund...

 

Die Maus seufzte. Ein Freund ist ein Freund in guten wie in schlechten...

 

Die Maus verdrückte eine Träne. Ich dachte, ich hätte den Ratz vergessen. Ich bin so wütend auf ihn. Zu Recht. Aber was ist nur los mit mir? So traurig und enttäuscht wie jetzt war ich noch nie. Und wenn die Amsel recht hat, ist das nächste wichtige Ereignis in meinem Leben ein schönes Begräbnis. Aus die Maus.

 

Bald würde der Abend dämmern. Das Mäuslein machte sich auf und huschte in den Wald hinein. Schnell und schön vorsichtig, meistens unter Blättern, Dornen, Zweigen, Wurzeln hindurch. Kaum sichtbar, kaum hörbar. Bis zur Eule. Die sass unbeweglich und mit geschlossenen Augen auf einem Ast. Nichts verriet, ob sie das Mäuslein bereits wahrgenommen hatte. Sie schien losgelöst von dieser Welt. Das Mäuschen hielt an und wartete still und ein wenig ängstlich, denn Eulen fressen unter anderem – Mäuse.

 

«Sag schon!», sagte die Eule laut, ohne sich zu regen. Das Mäuslein straffte sein Herz und sagte: «Die Amsel war heute bei mir und bot mir eine günstige Versicherung an. Die Amsel von der Zureich Versicherung sagte...»

 

Die Eule hob ein Auge halb hoch und lachte kurz auf: «Ha! Den Trick kenne ich. Wenn du alt bist, ruft die Amsel eine Eule, und schwupps, bist du Gewölle unter einem schönen moosigen Baum.»

Das Mäuslein zuckte zusammen, dann sagte es: «Immerhin ein schneller Tod.»

Die Eule öffnete das Auge ganz und sagte: «Du kannst den Tod nicht betrügen. Niemand weiss jemals, ob er gelegen oder ungelegen kommt, weil niemand weiss, was als nächstes passiert.»

Na ja, dachte das Mäuslein, das stimmt auch wieder. So gesehen war das Angebot der Amsel ein doppelter Betrug. Sie verspricht einen sanften Tod, aber man wird lebendig an die Eulen verfüttert. Und man kann dem Tod nicht in die Agenda pfuschen.

Die Dämmerung hatte begonnen, es wurde langsam düster. Im Wald war nichts zu hören ausser einem Knacken in der Ferne. Vielleicht etwas Harmloses.

 

In die Stille hinein sagte die Eule leise: «Warum bist du hier? Du weisst, dass ich dich fressen könnte. Du gehst ein Risiko ein – und du plauderst mit mir über eine Versicherung?» Die Eule hatte nun ihre beide orangen Augen geöffnet und starrte das Mäuschen an.

Das Mäuschen suchte nach Worten. «Ich werde bald sterben, hat die Amsel gesagt. Und das macht mich traurig.» Die Maus rümpfte kurz die Nase. «Ehrlich gesagt... bin ich oft traurig.»

Die Eule drehte den Kopf nach links und nach rechts, als würde er auf Kugellagern laufen, und starrte wieder das Mäuschen an. «Eine Frage. Was kommt dir immer wieder in den Sinn, wenn du vor dem Einschlafen die Augen zumachst?»

«Der Ratz», sagte die kleine Maus.

Die Eule schloss ein Auge ganz, das andere halb, und sagte: «Bist du die Maus, die mit einer Ratte befreundet ist? Die ganze Waldwelt kennt eure Geschichten.»

«Er ist nicht mein Freund. Er war gemein zu mir, seither haben wir uns nicht wieder gesehen.»

«Du solltest dich mit der Ratte versöhnen.»

«Mit diesem Drecksack?»

«Warum plagt es dich denn, wenn er an allem schuld ist?», fragte die Eule, verdrehte die Augen und schloss sie wieder. «Versöhnung beginnt mit dem ersten Schritt.»

 

Nach einer Pause sagte die Eule leise: «Du warst schon traurig, bevor die Amsel kam und vom Sterben sprach. Stimmts?»

Das Mäuslein zögerte kurz, dann nickte es.

«Das bedeutet, dass du den Anschluss verloren hast. Viel wichtiger als eine Versicherung ist, dass du Anschluss findest.»

«Was meinst du damit?», fragte die kleine Maus.

«Anschluss an den Sinn deines Mäuselebens, an deine wahren Bedürfnisse, Anschluss an die Grosse Eule, die alles erschaffen hat.»

«Ich mag es nicht, wenn du in Rätseln redest», sagte das Mäuslein.

«Es ist kein Rätsel, es ist eine Aufgabe», sagte die Eule.

 

Nach einer weiteren Pause verlagerte die Eule ihr Gewicht auf die linke Kralle, dann auf die rechte, dann stand sie wieder still und öffnete beide Augen halb. «Maus, haus! Ich spüre ein Hüngerlein im Magen, etwa so gross... wie eine kleine Maus.»

Schon war die Maus unter einer dicken Baumwurzel verschwunden und huschte kaum sichtbar tiefer in den dunklen Wald. Die Eule kicherte kurz auf, dann schloss sie die Augen wieder und schien zu erstarren. Mit dem Fortschreiten der Dämmerung verschmolz sie vollkommen mit ihrer Umgebung und wurde praktisch unsichtbar.

 

Die kleine Maus musste nach der Flucht vor der Eule ein wenig verschnaufen und warten, bis ihr Herzlein nicht mehr so raste. Man weiss ja nicht, wie ernst sie es meint, dachte die Maus. Und Eulen sind gefährliche Feinde, weil ihre Federn so geformt sind, dass sie beim Anflug nicht zu hören sind.

 

Das Mäuslein fasste nun zusammen, was es von dem Gespräch mitnehmen wollte. Vergiss die Versicherung, das ist klar. Anschluss finden, what the heck, ich bin doch kein Elektriker. Versöhnung. Die Grosse Eule finden, hols der Geier. Kannitverstan. Also mache ich zuerst das, was ich einigermassen kapiert habe. Obwohl es mich im Hals würgt. Schritt eins: Ich versöhne mich mit dem Ratz. Was bin ich schlau!

 

Es war gar nicht so leicht, den alten Körper durch den Wald zu schleppen. Das Mäuslein grochste und röchelte zwar nicht, aber bei kleinen Steigungen geriet es schon ausser Atem. Es brauchte mehr Pausen. Und es brauchte mehr Zeit, weil es die feinen Pilze und Wurzeln nicht mehr von weither riechen konnte, sondern erst, wenn es fast mit der Nase darauf stiess. Aber die Maus kam vorwärts. Stunde um Stunde, Tag für Tag. Es musste irgendwie jemanden vom Volk der Ratten finden. Jemand, der sie nicht gleich angreifen würde. Und was war mit dem Ratz? Würde er sich freuen, das Mäuslein zu sehen? Lebte er noch? War er wütend? Würde er gleich zum Angriff übergehen und seine ganze aggressive Verwandtschaft herbeipfeifen? Ich sterbe vielleicht sowieso bald. Warum nicht durch den Ratz? Das wäre immerhin noch ehrlicher als das Angebot der Amsel.

 

Das Mäuslein ging immer tiefer in den Wald hinein. Es kannte sich längst nicht mehr aus. Aber es fühlte sich erleichtert, weil es nun ein Ziel hatte. Die Traurigkeit war nicht weg, aber auch nicht mehr so drückend. Nur ein wenig Angst war noch da. Kein Problem, dachte das Mäuslein, ein wenig Angst ist ja eigentlich der Sinn der Sache. Auf vertrauten Wegen gibt es keine Abenteuer.

 

Mit dem neuen Mut kam auch das Glück. Plötzlich erstarrte das Mäuslein. Es wusste nicht, ob es etwas gehört oder gerochen hatte, aber etwas war da. Vorsichtig schlich es weiter, bis es eine grosse Ratte sah. Sie nuckelte zahnlos an ein paar Pilzen, die sich nicht wehren konnten. Sie ist ebenso alt wie ich, dachte das Mäuslein, und zu müde, um mich anzugreifen, und zu schwach, um vor mir zu fliehen.

 

«Guten Appetit», sagte das Mäuslein und stellte sich im Höflichkeitsabstand vor die Ratte. Diese schien zu erschrecken, zeigte es aber nicht. «Entschuldigung, dass ich beim Essen störe, aber ich suche eine Ratte.» Die Ratte gab ein Glucksen von sich, das man als Verdauungsstörung oder als Lachen interpretieren konnte, sah das Mäuslein an und sagte: «Aha, eine höfliche Maus.» Sie würgte ein Stückchen Pilz hinunter und sagte: «Du hast Glück, kleine Maus. Ich kenne rein zufällig ziemlich viele Ratten. Fragt sich nur, welche du suchst.»

«Ich suche den Ratz», sagte die kleine Maus. «Er ist so gross wie du und etwa so alt wie du. Wenn er unterwegs ist, grochst und röchelt er die ganze Zeit. Und von seinem linken Ohr ist ein Stück weggebrannt.»

«Jetzt hast du nochmals Glück. Den kenne ich. Jeder kennt ihn und seine Geschichten. Aber er grochst nicht», sagte die alte Ratte. «Er grochst nicht mehr.» Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und begann, sich laut schnaufend durch das Unterholz zu pflügen. Das Mäuslein gab sich einen Ruck und folgte der Ratte.

 

Der Weg führte sie schnurstracks ins Land des Rattenvolkes hinein. Schon nach kurzer Zeit sah die Maus auf beiden Seiten des Weges mal eine spitze Schnauze, die unter einer Wurzel hervorlugte, oder ein Paar neugierige Augen unter einem Dornenstrauch, oder hörte ein leises Huschen im Laub. Das Herz der Maus klopfte etwas heftiger als üblich. Obwohl sich die Ratten nicht offen zeigten, verriet ihre alte Nase, dass sie von ihnen längst umzingelt war.

 

Die alte Ratte bog um einen Baum und blieb schnaufend stehen. Die kleine Maus hielt neben ihr an und verschnaufte ebenfalls. Vor ihnen stand ein grosser Baum mit starken Wurzeln. Zwischen den Wurzeln führten Höhlen in die Erde hinein. Und im Eingang einer dieser Höhlen lag der Ratz und schlief. Die kleine Maus bedankte sich bei der alten Ratte, legte sich leise vor den Ratz hin, ruhte ein wenig aus und betrachtete den einstigen Freund aufmerksam. Er lebt noch, dachte das Mäuslein. Aber er ist sehr alt geworden. Da sieht man, wie alt ich selber geworden bin. Das Fell der alten Ratte hatte kahle Stellen, doch seine Schnauze war immer noch keck. Das linke Ohr war viel kürzer als das rechte. Feine Haare bedeckten die Narbe. Es war eindeutig der Ratz, der hier leise schnarchte.

 

Jetzt kam die Stunde der Wahrheit. Das Mäuslein begann, den Ratz vorsichtig zu schubsen. Zuerst reagierte er nicht. Dann begann er zu schnuppern, schliesslich öffnete er die Augen, ganz langsam. Einen Moment lang glotzte er das Mäuslein ausdruckslos an. Dann kam Leben in sein Gesicht. Er riss die Augen auf, grinste und lachte, begann zu strahlen. Er stand auf und drehte sich um sich selber, tanzte um das Mäuslein herum, lachte und weinte und rief: «Die Maus! Die Maus! Endlich!» Er beschnupperte die Schnauze der Maus, tätschelte ihre Vorderpfoten, rannte um sie herum und klopfte ihr auf die Schulter. Erst jetzt merkte die kleine Maus, dass das Grochsen verschwunden war. Obwohl die Ratte alt war, wirkte sie dennoch frisch und fröhlich.

 

«Das ist der schönste Tag meines langen Lebens», rief der Ratz und beruhigte sich langsam wieder. Nun musste er doch verschnaufen.

Das Mäuslein hatte noch kein Wort gesagt. Es hatte den Ratz ebenfalls mit den Vorderpfötchen getätschelt und seine Nase an seiner gerieben. Nun schaute es betreten zu Boden und sagte leise: «Bist du mir denn nicht böse? Nach allem, was geschehen ist?»

Der Ratz stutzte einen Moment, dann sagte er: «Was ist denn geschehen?» Er liess die Wörter in der Luft schweben, wandte sich ab und sagte: «Komm mit, ich will dir etwas zeigen.» Er führte das Mäuslein in seine Höhle. Sie war sauber und aufgeräumt und hatte mehrere Seitengänge, Ausgänge, kleine Notausgänge, Nischen und Nebenräume. Dann führte der Gang in ein grosses, rundes Gewölbe, in das von irgendwoher Licht drang. Der Boden war flach und unmöbliert; hier hätten sicher zwanzig Ratten Platz gefunden.

 

Die Wand war über und über bedeckt mit Zeichnungen, Skizzen, Gemälden, Zahlen und Notizen aller Art. Es durchzuckte die Maus: Hier waren alle ihre gemeinsamen Abenteuer aufgezeichnet, wie in einem bebilderten Tagebuch. Das Mäuslein erkannte sich selbst wieder, dargestellt als Strichmäuslein, gezeichnet als Karikatur mit riesiger Schnauze und sogar zwei oder dreimal gemalt in Farbe. Jede Schlucht, die sie überwunden hatten, jeder Berg, den sie bezwungen hatten, jede Höhle, die sie entdeckt hatten, war hier festgehalten. Auch die Erdzli waren hier skizziert, von vorne und im Profil, und es gab einen Plan von ihrer unterirdischen Stadt. Unvergesslich, wie sie einst dieses Volk von wieselähnlichen Wesen entdeckt hatten, die verborgen in der Erde lebten.

 

Beide sagten kein Wort und schauten sich das Meisterwerk an. Die Aufzeichnungen waren chronologisch geordnet, begannen gleich links des Eingangs und folgten im Uhrzeigersinn der Wand. Das seltsame Licht machte den Ort ruhig und angenehm. Das Mäuslein konnte sich an jede einzelne Begebenheit erinnern. Die letzten Bilder zeigten den Pississippi und eine Ratte mit rauchendem Ohr, die entsetzt aufschrie. Den Schlusspunkt setzte die kleine Maus. Mit grimmigem Gesicht sass sie vor ihrer halbverfallenen Höhle. Der Ratz hatte sie mit einer Träne am rechten Auge gezeichnet. Einer Träne der Trauer – oder der Wut.

«Glaube mir», sagte der Ratz leise, «ausser den Kleinsten kennt jeder unseres Volkes diese Geschichten. Die meisten waren schon mehrmals in diesem Raum. Rechts vom Eingang ist noch ein wenig Platz frei. Für das Ende der Geschichte.»

 

Das Mäuslein fühlte sein Herz nach und nach leichter werden, war aber immer noch sprachlos. Der Ratz schubste es sanft an und führte es wieder aus der Höhle hinaus. Sie gingen hinunter zu einem Bächlein, tranken Wasser, wuschen sich das Gesicht und knabberten an Brotstücken, die der Bach angeschwemmt hatte. Der Ratz bevorzugte ein völlig durchweichtes Stück, das Mäuslein hielt sich an eine Kruste, die schon länger am Ufer gelegen hatte und hart und knusprig war. «Das opfern die grossen Zweibeiner mit den winzigen Nasen für uns. Um uns Ratten zu ehren, legen sie das Brot ins Wasser», sagte der Ratz. Das Mäuslein sagte mit vollem Mund: «Nein, fie fmeiffen ef eimfach weg.» Der Ratz wischte sich den Mund ab. «Meine Version gefällt mir besser.»

 

«Die grossen Zweibeiner sind ohnehin seltsam», sagte das Mäuslein, nachdem es geschluckt hatte. Der Ratz warf ihm einen fragenden Blick zu. «Stell dir vor, sie sind so gross und haben so winzige Nasen. Was wollen sie damit? Ihre Nasen sind so klein, dass sie wahrscheinlich nicht einmal sich selbst riechen können.»

Der Ratz prustete los, quietschte vor Lachen, und das Mäuslein kicherte mit, und sie liessen sich zu Boden fallen, rollten hin und her und schütteten sich aus vor Lachen, bis es sie in den Lungen zu schmerzen begann.

 

Es war nun später Nachmittag. Gestärkt und erfrischt gingen sie zurück zur Höhle der Ratte, kletterten dort auf einen hohen Baum und setzten sich auf einen dicken Ast. Trotz ihres Alters kamen sie gut hinauf, denn der Weg war perfekt vorbereitet, mit vielen Steig- und Haltemöglichkeiten, und sie konnten sich immer wieder hinsetzen und verschnaufen. Von diesem Ast aus konnte man ein Stück des Waldes überblicken; man sah auch ein wenig Himmel und eine Lücke zwischen den Wipfeln erlaubte es, der Sonne beim Untergang zuzuschauen und den Geräuschen des Waldes zu lauschen. Eine Weile sassen beide schweigend da und genossen den Augenblick.

 

Dann sagte der Ratz: «Was ist damals geschehen? Das war vorhin deine Frage. Ich erzähle es dir. Wir haben das Land der Präriehunde nicht erreicht. Eine Niederlage. Kann passieren. Auf dem Heimweg habe ich mein Ohr verkokelt. Und dann war deine Höhle abgesoffen. Alles zusammen war starker Tobak. Am nächsten Tag wollte ich dir helfen, aber das Ohr brannte wie Feuer, mein ganzer Körper zitterte, ich konnte kaum einen Gedanken zu Ende denken. Ich bat einen Freund, er solle hingehen und dir helfen. Doch er fand dich nicht. Als ich wieder fit war, machte ich mich selbst auf die Suche. Tagelang, wochenlang. Ich dachte, du seist... Den Rest weisst du.»

Der Ratz seufzte tief. Dann fragte er: «Warum bist du damals abgehauen?» Das Mäuslein straffte sein Herz und erzählte von seiner Wut und wie es sich über den Ratz geärgert hatte. Wie es alle Schuld dem Ratz zugeschoben und ihn für die Verletzung des Ohres verspottet hatte. «Ich habe damals nur an mich gedacht. Ich habe unsere Freundschaft verraten», sagte die Maus. «Ich bitte dich, dass du mir verzeihst.»

 

Der Ratz lachte fröhlich. «Das habe ich längst getan. Der Niki Lauda gab mir zwar viel Arbeit, aber auch den habe ich dir verziehen. Vergeben ist Leben, glaube ich.» Der Maus fiel ein Gewicht von der Seele. Der Druck der letzten Monate war weg. Die Traurigkeit hatte sich verflüchtigt. Das Mäuslein hatte bis zu diesem Augenblick nicht gewusst, was für ein schweres Gewicht es die ganze Zeit getragen hatte. Die Last war langsam schwerer geworden, dachte es, wie bei einer Mauswanderung, wenn einem die Kameraden bei jeder Rast einen Stein in den Rucksack schmuggeln. Das Mäuslein atmete auf, lächelte, strahlte den Ratz an. Das war jetzt wohl die Versöhnung, von der die Eule gesprochen hatte. Der Rat der Eule war mausegut gewesen! Es dürfte sich lohnen, dachte die Maus, sich jetzt auch um den Anschluss zu kümmern. Und um die Grosse Eule.

 

Sie brauchten lange, bis sie wieder am Boden waren, und legten sich in der Rattenhöhle zur Ruhe. Die Maus erhielt einen kleinen Nebenraum für sich allein, der Ratz zog sich in eine Schlafnische ganz hinten in der Höhle zurück. «Gute Nacht, liebe Maus. Du hast mich heute sehr, sehr glücklich gemacht», sagte der Ratz. Dann war er weg. «Du mich auch», piepste die Maus hinterher, dann war der Freund verschwunden.

Die Maus dachte noch eine Weile nach. Noch immer spürte sie, dass ein grosser Druck von ihrem Herzen gewichen war. Es ist das Schuldgefühl, das weg ist, dachte die Maus. Ich hatte dem Ratz Unrecht getan. Zudem war da etwas Warmes und Neues in ihrer Seele. Was mochte das sein? Die neu entzündete Flamme der Freundschaft. Oder die Nicht-Einsamkeit, dachte die Maus. Kann Einsamkeit weh tun? Sie drehte sich auf die andere Seite und schloss die Augen. Vielleicht habe ich den Anschluss schon gefunden, dachte sie noch, dann schlief sie ein. Sie schlief so gut wie schon lange nicht mehr.

 

Als das Mäuslein am nächsten Morgen erwachte, war nichts zu sehen vom Ratz. Es reckte seine Glieder und ging langsam aus der Rattenhöhle hinaus. Es fühlte sich froh und frei, aber auch alt und müde. Die Maus erkundete ein wenig die Umgebung der Rattenhöhle. Sie pinkelte an einen Baum und dachte: Minipississippi. Da hörte sie Quietschen und Piepsen und ging der Sache auf den Grund. Drei Bäume weiter befand sich eine kleine Lichtung, ein freier Platz, auf dem ein paar junge Ratten spielten. Am Rande des Spielfelds, unter den Dornenblättern kaum zu sehen, wachten zwei oder drei erwachsene Ratten über die Kleinen. Das Mäuslein setzte sich und sah den spielenden Kindern zu. Das Spiel war kompliziert, die kleinen Ratten rannten herum, fingen sich gegenseitig und bildeten Gruppen die sich nach ein paar Sekunden wieder auflösten und neu formierten. Eine besonders kleine Ratte wurde geschubst, fiel hin und quiekte laut. Dann ging sie zum Spielfeldrand, offenbar traurig, und war im Halbschatten kaum zu sehen. Eine grosse Rattenpfote streichelte sie. Nach einiger Zeit tauchte die kleine Ratte wieder auf und spielte wieder mit.

 

Eine etwas grössere Ratte stiess ein Rattenmädchen zur Seite. Es fiel hin, stand sogleich wieder auf und versetzte der grösseren Ratte einen schwungvollen Puff auf die empfindliche Nase. Das ging so schnell, dass der grössere Ratz nicht mehr ausweichen konnte. Aber der Puff trieb ihm die Tränen in die Augen, und auch er verliess das Spielfeld. Bald kam er zurück und spielte wieder mit, und auch das Rattenmädchen spielte wieder mit ihm.

 

Die Kleinen können es, dachte das Mäuslein. Sie tun sich weh oder ihnen wird wehgetan. So ist es im Leben. Dann vergeben sie einander ganz formlos und alles ist wieder gut. Sie brauchen keine Vergebungs-Zeremonie, keinen Versöhnungstag, keine Kerzen, keine Lieder. Sie lassen es hinter sich und das Spiel geht weiter. Streit, Schmerz, Versöhnung folgen sich wie ein natürlicher Kreislauf. Eingreifen muss man eigentlich nur, wenn dieser Kreislauf blockiert ist. Ich aber in meinem Mauseloch, ich liess nicht zu, dass jemand eingreift und mich tröstet oder mich zurechtweist. Ich liess beides wuchern, das Unrecht, das ich dem Ratz angetan hatte, und den Groll in mir.

Das ist jetzt vorbei. Ich bin so froh, dass ich den Ratz gefunden habe, dachte die Maus, und machte einen altersgerechten Luftsprung. Also eine undefinierbare Ruckelbewegung. Zufrieden ging sie zurück zur Rattenhöhle.

 

Das Mäuslein fand den Ratz im Gewölbe. Er hatte den letzten freien Platz an der Wand mit einer Zeichnung gefüllt. Sie war besonders schön geworden und mit leuchtenden Farben ausgemalt. Sie zeigte ihre Wiedervereinigung; den tanzenden Ratz und das Mäuslein mit offenem Mäulchen. Es war der Moment, in dem es merkte, dass der Ratz nicht nachtragend war.

«Es ist sehr schön geworden», sagte das Mäuslein.

«Mhm», brummte der Ratz. «Aber ich muss sagen, jetzt bin ich sehr, sehr müde. Ich war schon seit Stunden dran.»

 

«Was ist denn das?», fragte das Mäuslein und ging auf eine Nische in der Wand zu. Sie hatte diese gestern gar nicht bemerkt. Die Nische war ebenfalls ausgemalt, aber in anderen Farben. Hier dominierten rote und blaue Töne, und es war ein symbolisches Bild. Der Ratz hatte eine grosse Ratte gemalt, die ihre Arme über einem Ohr ausbreitete. Das Ohr hatte eine leuchtend rote Narbe und rote Blitze zuckten auf alle Seiten. Unter dem Ohr waren einige Figuren zu sehen, die so fein gemalt waren, dass die Maus sie kaum sehen konnte, zum Beispiel eine kleine Maus, ein Rattengesicht, ein Baum, eine Wolke.

«Dieses Bild habe ich für mich allein gemalt», sagte der Ratz leise. «Es zeigt den Moment, in dem ich Anschluss gefunden habe.»

Der Ratz hüstelte und fuhr fort: «Ich habe die Grosse Ratte gefunden. Oder sie mich. Weisst du, als ich damals krank war, wegen dem Lavafetzen, ging es mir sehr schlecht. Ich wäre fast gestorben. Da redete ich mit der Grossen Ratte, die alles erschaffen hat, und bat sie um zwei Dinge: Dass ich gesund werde und dass ich dich wiederfinde. Und ich wurde gesund. Und mein Grochsen war plötzlich weg. Und jetzt habe ich dich wiedergefunden.»

Der Ratz grinste die Maus an. «Damals habe ich angefangen, jeden Tag dankbar zu sein für die Bäume, das Wasser, den Himmel und alles. Das zeigt dieses Bild.»

«Das kommt mir spanisch vor», sagte das Mäuslein und machte ein paar Schritte zurück. «Die Eule hat mir gesagt, ich solle Anschluss finden und die Grosse Eule finden. Und du kommst mir mit der Grossen Ratte.»

Der Ratz hustete einen Moment, dann sagte er: «Du siehst das zu eng. Grosse Eule, Grosse Ratte, Grosse Maus; es ist die, die alles gemacht hat, egal, wie wir sagen. Die grossen Zweibeiner mit den winzigen Nasen nennen ihn Gott oder Adonai oder Jesus, was weiss ich.»

«Es geht also um Religion», sagte die Maus.

 

Der Ratz schien sich über das Gespräch zu freuen. «Nein, religiöse Systeme oder Rituale interessieren mich nicht. Morgen will ich dir alles zeigen. Dann erkläre ich es dir. Wir Ratten treffen uns dann, piepsen Lieder und erzählen uns Geschichten von der Grossen Ratte. Dann wirst du verstehen, was Anschluss heisst.»

Das Mäuslein machte wieder in paar Schritte vorwärts. In der Nische befand sich ein viereckiger Fleck. Aus der Nähe sah es nun, dass es kleine Buchstaben waren.

«Was ist das?», fragte die kleine Maus.

«Das Lied von der Grossen Ratte. Aber komm, jetzt habe ich Hunger.»

 

Sie gingen wieder hinunter zu dem Bach und frassen sich voll mit Brotresten, die von den grossen Zweibeinern mit den winzigen Nasen geopfert worden waren, um die Ratten und Mäuse zu ehren.

 

Nach dem Festmahl sagte der Ratz, er sei zwar sehr müde, aber er wolle unbedingt hinauf auf seinen Ast. So machten sie sich auf den Weg und kletterten den Baum hoch. Sie brauchten sehr viel Zeit, bis sie oben waren. Zwei, drei Mal dachte die Maus, sie würden es nicht schaffen. Aber jetzt waren sie oben, sassen auf einem Moospolster, ruhten sich aus und genossen das Beisammensein und den weiten Ausblick. Der Wald rauschte und knackte leise. Die Wolken zogen vorbei, und manchmal war ein Ruf zu hören, von einem Habicht, einer Elster oder einem Fuchs. Die Völker der Ratten und Mäuse schienen hier oben nicht zu existieren. Das Mäuslein und der Ratz waren froh und zufrieden und sagten kein Wort. Ich habe den Anschluss schon gefunden, dachte die Maus. Ich glaube, die Eule hat genau das gemeint.

 

«Wir dürfen nicht hierbleiben, bis es dunkel wird, sonst schaffe ich es nicht mehr hinunter», sagte der Ratz. So machten sie sich am Nachmittag an den Abstieg. Er war mühsamer als vorher der Aufstieg. Als sie unten waren, hatte bereits die Abenddämmerung begonnen. Sie gönnten sich am Bächlein noch einen kleinen Imbiss, dann gingen sie zurück in die Rattenhöhle. «Morgen zeige ich dir alles über die Grosse Ratte», wiederholte der Ratz.

«Soll ich mich darauf freuen?», sagte die kleine Maus. «Ich möchte keine innere Stimme hören, die mit mir schimpft und mich für meine Fehler anklagt.» Trotz seiner Müdigkeit wirbelte der Ratz blitzschnell herum und sagte freundlich: «Die Grosse Ratte hat alles erschaffen. Sie liebt alles. Sie ist Liebe. Die Stimme, die dich anklagt, ist niemals ihre Stimme.»

Dann schlurfte der Ratz zu seinem Schlafplätzchen.

Die Maus versuchte noch, darüber nachzudenken, was der Ratz gesagt hatte. Es war wichtig, dachte sie, aber dann war sie auch schon eingeschlafen.

 

Als das Mäuslein am nächsten Morgen erwachte, war es draussen schon taghell. Wo war der Ratz? Wo waren überhaupt die Ratten? Weit und breit kein Schwänzchen, kein Piepsen, kein Bein. Der Geruch des Rattenvolkes war schwach geworden, als wäre es weggegangen. Im Wald war es still.

Die Maus ging zurück in die Höhle, um den Ratz zu holen. Er lag immer noch ganz hinten in seiner Nische. Er regte sich nicht. Nicht mehr. Nie mehr.

 

Das Mäuslein betrachtete ihn eine lange Zeit. Dann sagte es: «Adieu Ratz, mein Freund», wandte sich um und ging in Richtung Ausgang. Im Bildergewölbe blieb es nochmals stehen und betrachtete das Vermächtnis seines Freundes. Es ging zur Nische und versuchte, den Text zu entziffern, der auf den ersten Blick ausgesehen hatte wie ein Fleck. Er war in kleinen, gestochen scharfen Buchstaben geschrieben. Daneben befanden sich geheimnisvolle Zeichen. Vielleicht ist das die Melodie, dachte das Mäuslein, und las:

Grosser Ratz, wir danken dir.

Deine Pfoten trösten mir.

Du hast mich gesund gemacht.

Du machst, dass der Wald nicht kracht.

 

Im Falle jedes Falles

Riecht deine Nase alles.

Und du gibst, was wir brauchen,

Heilst die Ohren, die rauchen.

 

Lässt das Essen schnell faulen.

Erhörst uns wenn wir jaulen.

Segnest uns tagein tagaus.

Und am Schluss find ich die Maus!

 

Das Mäuslein schneuzte leise und dachte: Aha, für den Ratz ist es kein religiöses System. Es geht ihm nicht um Rituale, sondern er ist jeden Tag dankbar. Dann verliess es die Höhle. Da immer noch kein Bein zu sehen war, machte sich die Maus auf den Heimweg.

 

Die Reise fiel der Maus schwer. Sie musste schnaufen, und bei einer Steigung grochste sie fast so laut wie damals der Ratz. Sie legte immer wieder Pausen ein, um zu Kräften zu kommen. Nach zwei oder drei Tagen machte das Mäuslein eine besonders lange Pause. Es war schon am Morgen fix und fertig gewesen. Gegen Abend setzte es sich unter einem hohen Baum auf das Moospolster bei den Wurzeln und versuchte, ruhig zu atmen. Ich bin müde, aber gar nicht traurig, stellte die Maus fest. Mein Freund war zufrieden und dankbar. Er hatte Anschluss gefunden, deshalb musste er nicht mehr Dingen nachjagen und Sachen ergattern. Er hatte Frieden mit sich selber und mit der Grossen Ratte. Er musste nicht mehr herumgrochsen, er atmete frei. Er war froh in seinen Erinnerungen. Er hat sogar mit mir Frieden gemacht, und zwar schon vor langer Zeit. Nicht erst als ich kam. Alles ist gut.

 

Das Mäuslein war nun sehr müde. Ich kann auch nicht klagen, dachte es. Nach ein paar traurigen Monaten habe ich jetzt Anschluss gefunden, wie die Eule sagte. Ich weiss jetzt, was mir gut tut und was Gift ist für meine Seele. Ich habe zu lange Gift getrunken. Jetzt bin ich mit dem Ratz versöhnt. Mir geht es besser als zur Zeit, da ich immer neue Höhlen besetzte. Eigentlich brauche ich nichts mehr, dachte es.

 

«Grosse Maus», sagte die kleine Maus, «Danke. Danke für alles.»

Dann schlief sie ein. Ganz, ganz tief.

 

 ***

 

Die kleine Maus ging über eine Wiese. So weit sie sehen konnte, gab es hier Gräser und Blumen aller Art, Wurzeln und Knollen bei jedem Schritt, Leckereien noch und noch. Die Luft war angenehm warm, und am Himmel zeigten sich keine Raubvögel. Gelegentlich lagen kleine Nüsschen am Boden, und es schien der Maus, als wären auch Speck- und Käsewürfeli darunter. Ein Bächlein plätscherte in der Nähe, wo es frisches Wasser trinken konnte. Das Mäuslein ging weiter, ohne schnaufen oder grochsen. Es fühlte sich flink und stark. In der Ferne sah es einen sanften Hügel, der übersät war mit Höhleneingängen. Es würde hier einfach einziehen können, ohne lange graben zu müssen. Langsam ging es auf die Höhlenstadt zu. Es hätte schon rennen können, es spürte die Kraft, aber es schnupperte lieber die saubere Luft, knabberte an feinen Pflanzen, gönnte sich hie und da ein saftiges Würzelchen und genoss jede Minute. Alles hier roch frisch und schmeckte vorzüglich. Die Maus spürte das sanfte Licht auf seinem glänzenden Fell. Es kam nicht von einer zentralen Quelle, sodass es Schatten geworfen hätte, sondern tauchte alles in eine angenehme Helligkeit. Das Licht schien die Luft und die Wiesen mit Wärme und Frieden zu durchdringen.

 

Die kleine Maus war näher gekommen und konnte die Höhlenstadt nun gut sehen. Vereinzelt hatte es dort Mäuse, Ratten und andere Bewohner, vermutlich auch Murmeltiere und Präriehunde. Sogar Erdzli waren dabei. Aber viele Höhlen schienen leer zu stehen. Genug Wohnungen für alle, dachte die Maus. Und einen Palast für mich.

 

Das sah sie eine Bewegung. Eine Ratte löste sich von der Höhlenstadt und rannte los. Es war eine junge Ratte. Sie lief direkt auf das Mäuschen zu und kam immer näher. Flink wie ein Wiesel, schnell wie der Wind. Es dauerte nur Augenblicke, bis der Ratz vor ihm stand. Sein linkes Ohr war wieder heil. «Mein Freund, schön dass du da bist!», rief er und begann einen wilden Freudentanz.

 

Und das Mäuschen tanzte mit.

 

Für I., K., N., R. und alle, die mich und unsere Familie mit guten Wünschen und Gebeten unterstützen.